Jana Gottenströter für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter“
Wachstumsschmerz
„Growth, growth“, hallt es durch den Raum. „Growth!“
Ich presse den roten Knopf, bis sich das Gummi in meine Haut bohrt. Ein schwarzer Bildschirm, Stille im Raum. Nicht aber in meinem Kopf.
Da hören wir es, laut und deutlich: Wir brauchen Wachstum. Keine Alternative, kein Wundermittel, keine Lösung durch die Hintertür, nein. Wachstum. Jetzt erst recht! Bringen wir die Krise hinter uns, dann sehen wir weiter. Peu à peu, so wie immer. Irgendwer wird’s schon richten, nicht wahr?
Wachstum – Paradigma, Hoffnungsschimmer, Lebensversicherung. Leitstern unseres Zeitalters. Wie die Logik hinter dem Labyrinth des Lebens. Wie die Selbstverständlichkeit des Seins, mit der wir morgens die Augen aufschlagen. Wie das Allheilmittel eines Todkranken, den es nach einem weiteren Tag dürstet. Wie …
Stopp.
Jetzt betrachte ich dich, mein Sohn, friedlich schlummernd und aus dem nächsten Pyjama herauswachsend. Dein Körper kennt wenig Schmerz, kaum Sorgen.
Ich wünsche dir, dass auch du wächst, gedeihst. Ich wünsche dir Stärke und Mut, dieser Welt entgegenzutreten. Bunte Farben, wo auch immer du hinsiehst. Dichte Wälder, durch die du streifen kannst. Die Chance, dich zu verwirklichen. Und: Frieden im Herzen – und um dich herum.
Immer höher, heißt es. Weiter. Bloß nicht stehen bleiben. Nach den Sternen greifen, auch, wenn sie bereits verblassen. Das Leben konsumieren, mit all seinen Facetten. So habe ich es gelernt. So bin ich.
Heute weiß ich: Da läuft was falsch.
Doch wie erkläre ich sie dir, unsere Welt, dieses Monstrum aus Standpunkten, Emotionen, Urteilen? Woran wirst du dich klammern? An Wachstum, wie gehabt, Gewinn und Macht? An die große Masse, die dich zwinkernd an der Hand führt? Oder brichst du aus, furchtlos, den Blick über den Horizont schweifend?
Ich wünsche dir den Leuchtturm, den ich nie hatte – nie haben wollte. Einen mit grellem Licht, dir den Weg weisend, wenn die Fülle des Lebens dir Scheuklappen über die Augen legt. Einen Leuchtturm, der dir hilft, die Welt zu schultern. Entgegen dem Mehr, dem Überfluss.
Und eines Tages wirst du vor mir stehen, sagen: „Ach Mama, es ist nie zu spät auszubrechen!“ Recht hast du – aber es wird mit jedem Jahr schwerer. Ich tue, was ich kann. Meine beschauliche Waffe? Worte.
Mein Gott, wie sehr ich hoffe, dass du niemals eine führen musst.
Und wenn das Wasser über die Ufer tritt, Smog ganze Städte schluckt, Frauen im übernächsten Land auf die Straße gehen, Krieg Menschen in die Fremde treibt, Depression sich in ihren Köpfen breitmacht, wenn …
Dann halte ich inne, frage mich: Was, wenn die Welt wie ich sie kenne, über ihre Füße stolpert? Was, wenn sie scheitert?
Was, wenn die Welt, die ich dich lehre, dich in die Irre führt?
Möglich. Gar wahrscheinlich.
Drum lass eines in dein Herz: Genügsamkeit. Bist du zufrieden, bist du ganz. Wachse, ja, aber mit Bedacht. Lass den Moment mal, wie er ist. Und wenn er dich vom Kurs abbringt, fang ich dich auf – solange ich kann.
Denn halte ich dich, wird der Rest ganz klein.
Halte ich dich, leitet uns das Licht.
Jana Gottenströter, Jahrgang 1991 und wohnhaft in der Nähe von Heidelberg, hat einen großen Teil ihrer 20er im Ausland verbracht. Das Leben dort inspirierte sie dazu, ihren ersten Roman zu schreiben. Nach dem Masterstudium (BWL mit Wirtschaftsethik) rückten Themen wie Nachhaltigkeit und zukünftige Generationen in ihren (Schreib-)Fokus. Aktuell baut sie sich neben ihrem Hauptjob ein zweites Standbein als freie Texterin auf.
__________
Instagram: janaschreibt_
Englischsprachige Artikel: https://medium.com/@janaclarke
Über #kkl HIER
Großartig! (Wenn möglich, großformatig weiter veröffentlichen). Viel Erfolg wünscht Monika Schlößer
LikeGefällt 1 Person