herumwirren und umherirren        

Mona Gnan für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter“




herumwirren und umherirren                                                                                    

Als ich klein war, dachte ich, dass die Locken aus meinem Kopf sprießen würden, weil die Gedanken im Innern meines Kopfes so schnell herumwirren. Weil sie so schnell herumwirren und umherirren und meine Haare sich deshalb so doll verzwirbeln, bis sie sich ringeln. Ich habe schnell genug gelernt, dass diese Idee Quatsch ist. Trotzdem denke ich noch oft daran, wenn ich mich wieder in meiner Gedankenspirale verliere. Sie ist zwar nicht für meine Locken verantwortlich, aber sie ist genauso ein Teil von mir. Wegen ihr verspreche ich mich andauernd, weil meine Lippen nicht mit dem Tempo in meinem Kopf mithalten können. Wegen ihr verrenne ich mich oft in einem Labyrinth und finde nicht mehr hinaus, bis mir jemand hinaushilft und klar macht, dass ich mich verlaufen habe. Mich selbst manipuliert habe. Wegen ihr habe ich die schlimmsten Ideen und dann hasse ich, dass mein Kopf so funktioniert. Wegen ihr habe ich die besten Ideen, und dann bin ich stolz darauf, etwas Positives daraus gemacht zu haben. Und dass mein Kopf so funktioniert. Wenn ich von etwas mehr als genug habe, dann sind es Gedanken und Haare auf dem Kopf. Und bei beiden habe ich Schwierigkeiten, sie zu bändigen. Dass mich meine Familie und Freunde Wuschelkopf nennen, trifft für mich auf mehreren Ebenen zu. Vielleicht ist Wuschelkopf für andere eine Beschreibung meines Äußeren, aber ich finde, es beschreibt mein Inneres.  

Dieser Gedanke kam mir kürzlich das erste Mal seit langer Zeit wieder. An einem kühlen, grauen Herbstmorgen, als nicht klar war, ob es noch Nacht war oder bereits Tagesanbruch, als der Nebel tief über dem Boden stand, als die Stadt schläfrig, gar zögerlich, ein Augenlid hob. Ich stand an einem alten Geländer vor dem Kanal, die Handflächen auf dem kalten Metall, auf den Handrücken der Druck meiner Hüftknochen, hinter ihnen mein ganzes Gewicht. Ich stand am Kanal und blickte über das dunkle Wasser und befand mich irgendwo in einem Zwiespalt. Auch ich wollte schlafen, aber ich genoss es gleichzeitig, Zeugin dieser morgendlichen Ruhe zu sein. Ich wippte, vor und zurück, angewinkelte Arme, gestreckte Arme, spürbare Hüftknochen, spürbare Handgelenke. Meine Finger schmerzten von meinem eiserenen Griff und der Kälte des Eisens. Weißer Atem stieg vor meinem Gesicht auf und umarmte meine kalte Nasenspitze. Zuerst habe ich den alten Gedanken gar nicht wiedererkannt und dachte, er sei neu. Aber er kam mir irgendwie bekannt vor, vertraut. Wie das kindliche Wippen, automatisiert. Wenn ich durch diese Stadt gehe, denke ich ständig, ich sähe Leute aus anderen Punkten in meinem Leben. Punkte in meinem Leben, die ich mit einem Buntstift vernetzen kann wie diese Bilder in Malbüchern für Kinder, nicht Malen nach Zahlen, sondern Punkte nach Zahlen, und am Ende ergeben sie ein Bild von meinem Gesicht, das mein Leben zusammenfassen soll. Wenn mein erster Blick die Altunbekannten streift, erschrecke ich, nur um beim zweiten Blick festzustellen, dass sich viele bärtige Männer mit Brille einfach nur sehr ähnlichsehen. Flüchtigkeitsfehler. Ich bin nicht hierhergekommen, um Leute zu treffen, die mich kennen. Ich bin nicht hierhergekommen, um alte Gedanken nochmal zu denken.

Als ich hierherkam, wollte ich alles hinter mir lassen. Alle, die ich kannte und alle, die mich kannten, und alles, was ich über mich kannte. Ich wollte nichts kennen. Ganz lange hat das auch funktioniert. Die alternative Realität, die zu meiner Realität wurde, in der ich nichts kannte und entscheiden konnte, wer mich wie kennenlernte und wen ich überhaupt kennenlernen wollte. Ich wollte niemanden kennenlernen, bis ich dich traf. Ich dachte, es läge an dir als Person, aber dann hat dein Kopfkissen gar nicht so gut gerochen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Und da wusste ich, dass auch du ein Produkt meiner Fantasie warst, ein Produkt meiner alternativen Realität, die nicht der Realität entsprach.

Bevor ich am Kanal stand, habe ich mich auf sockigen Zehenspitzen aus einem unvertrauten Zimmer gestohlen und dabei nichts zurückgelassen. Meine Haare und Gedanken verwuschelt von flüchtig bekannten Händen. Die letzte Nacht, ein weiteres Bild in meinem Erinnerungsalbum. Das letzte Gesicht, ein weiteres Sammelbild zum Aufkleben. Und wenn das Album voll wäre, würde ich mich hoffentlich irgendwann vollständig fühlen. Als ich dann durch die leeren Straßen am anderen Ende der Stadt ging und zu den paar Fenstern aufblickte, in denen vereinzelt Licht brannte, weil es immer arme Teufel gibt, die so früh aufstehen müssen, dass ihnen die Ruhe des Morgens durch das Fehlen von Freiwilligkeit geraubt wird, blieb ich an einer Ecke stehen, die ich nicht kannte. Die aber so aussah, als könnte man sie überall in dieser Stadt finden, auch wenn man die Stadt nur flüchtig kannte. So wie auch ich diesen Stadtteil nur flüchtig kannte. So wie ich auch mich nur flüchtig kannte. Das war mal anders. Früher wusste ich genau, wer ich war und wo ich hingehörte, weil als Kind alles selbstverständlich und jeder Zustand ein Naturgesetz ist. Als ich auf den Kanal blickte, an der flüchtigen Ecke, dachte ich, dass Erwachsensein bedeutet, schwimmen zu lernen und nie wieder damit aufzuhören. Konstante Veränderung als einzige Konstante im Leben zu akzeptieren. Die Fremde im Spiegel zu behandeln als wäre sie eine Altbekannte – oder zumindest so zu tun, als ob. Zu verstehen, dass man nichts kennt, und aufzuhören, sich selbst einzureden, dass man nichts kennen will.

Am Anfang hat mir das alles Angst gemacht, aber dann hat sich etwas verändert. Ich bekam das Gefühl, dass Wurzeln in mir wachsen. In meinem Brustkorb, direkt zwischen meinem Schlüsselbein und der untersten Rippe, hinter meinen Lungen, entlang der Wirbelsäule. Von oben und unten wachsen sie aufeinander zu. Sie weben sich zwischen meine Rippen, doch es ist nicht schlimm. Immer, wenn etwas weh tut, wachsen sie danach ein bisschen weiter und greifen etwas mehr nacheinander. Früher war ich nicht stabil. Aber in letzter Zeit habe ich bemerkt, dass es diese Wurzeln gibt und dass sie immer mehr zusammenwachsen und sich dieser feste Kern in meinem Inneren bildet, der davor nicht da war. Ich kann gehen, wohin ich will, und es ist okay, dass nicht alles direkt ein Naturgesetz ist. Und dass es reicht, wenn ich mein eigenes Naturgesetz bin. Ich kann mich auf ihm ausruhen, ich kann von ihm zehren, ohne dass er weniger wird. Er wächst mit mir und ich wachse mit ihm und es ist ein Geben und Nehmen. Niemand kann unendlich lange schwimmen.

So stand ich am Kanal, ganz im Einklang mit dem unfertigen Tag, der sich, meiner gleich, in einem Zwiespalt befand und nicht wusste, ob er noch Nacht oder bereits Morgen war. Wir wussten beide nicht, ob wir noch gestern oder bereits heute waren. Ich erinnere mich, dass ich Durst hatte, als ich da am Kanal stand. Wenn man das Fenster in einem stickigen Raum öffnet, ist frische Luft, wie wenn man endlich trinkt, nachdem man sehr viel Durst hatte. Und manchmal wusste man davor gar nicht, wie nötig und dringend es gewesen war und wie viel Durst man gehabt hatte. Genauso fühlte es sich an, als ich mit durchgestreckten Ellenbogen mein Gewicht auf meinen Fingerspitzen ablegte, die sich um das eiserne Geländer vor dem Kanal krümmten und langsam taub wurden. Genauso fühlte es sich an, als auf einmal goldene Sprenkel als Vorboten auf den Spitzen der winzigen Wellen auftauchten. Ich betrachtete die Sprenkel, wie sie da vor sich hin tanzten, und es füllte lediglich ein einziger Gedanke den Raum in mir aus: „Gestern ist es so grau gewesen, dass es nie Tag geworden ist, auch nicht in meinem Kopf.“




Mona Gnan hatte zu lange unberührte Texte auf ihrem Laptop liegen, die sie jetzt abstauben und anderen Menschen zeigen möchte. Ihre Liebe zu Büchern und Sprache begleitet sie schon ihr ganzes Leben – frühe Zeugnisse ihrer eigenen schriftstellerischen Arbeit sind Tiergeschichten, die sie während ihrer ersten Schuljahre anstelle der Grammatikaufgaben in ihre Schulhefte geschrieben hat. Im Jahr 2019 war sie Preisträgerin des Landeswettbewerbs Deutsche Sprache und Literatur des Landes Baden-Württemberg. Da Mona laut ihres Umfeldes sehr wunderfitzig ist und immer irgendwo einen Grund zu schreiben findet, ist sie neben dem Verfassen von kreativen Texten auch zum Journalismus gekommen. Aktuell schreibt sie für den ruprecht, die unabhängige Studierendenzeitung der Universität Heidelberg. 






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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