Erstrecke dich bis zum Himmel

Martin A. Völker für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter“




Erstrecke dich bis zum Himmel

Du fragst mich nach Sicherheiten und hegst die Erwartung, dass ich sie dir nicht zu geben vermag, weil alles unsicher ist in der Welt. Überprüfe zunächst, ob hier vielleicht eine Verwechslung vorliegt, ob für dich Sicherheit und Berechenbarkeit in eins fallen. Beides ist durchaus verschieden voneinander: Die Sicherheit bezieht sich eher auf dein Gefühl, auf eine ersehnte Geborgenheit und auf dein Verlangen nach Unversehrtheit. Die Berechenbarkeit zeigt eher auf die Umstände, sie ist die Vorausschau auf ihre Ordnung oder Unordnung. Berechenbarkeit ist die verbindliche Vorhersage, ob das Ausmaß an Unordnung deine Sicherheit oder das Gefühl davon bedroht. Berechenbarkeit bezeichnet außerdem den menschlichen Aberwitz, die Unordnung der äußeren Gegebenheiten kommen zu sehen und aufhalten zu können. Aber das Chaos, das dich bisweilen umgibt, muss dich nicht wanken machen. Hier liegt eben ein Unterschied: Alles kann anders als gedacht kommen, und trotzdem kannst du dich gleichzeitig sicher und geborgen fühlen. Deine Sicherheit beginnt damit, dass ich dir sicher mitteilen kann, dass alles in der Welt unberechenbar war, unberechenbar ist und unberechenbar bleiben wird. Darauf kannst du zählen und daraus deine Schlüsse ziehen. Sei gefasst darauf, dass jede menschliche Berechnung am universellen Übermaß scheitern wird. Die Welt bewegt sich über unseren Köpfen und zwar nach Gesetzen, die nicht unseren Köpfen entsprungen sind. Diese Unberechenbarkeit einer eruptiven Unlogik wäre an sich völlig unproblematisch. Das eigentliche Problem besteht darin, alles das, was unendlich viel größer ist als wir, auf unser Zwergenmaß bringen zu wollen. Wir scheitern demnach keineswegs an der Unberechenbarkeit der Welt, sondern an uns selbst, an unserer Kleinheit, die das Übergroße nicht versteht und stattdessen will, es solle doch ganz anders sein. Sicherheit erwächst daraus, sich an der ewigen Verformung des Übergroßen zu erfreuen. Liebe die wunderbare Dyskalkulie des Universums. Die Natur rechnet nicht, sie würfelt mit unzählbar vielen Würfeln. Jede unvorhergesehene Veränderung kann so aufregend und belebend sein wie der Blick in ein sich immer veränderndes Kaleidoskop. Es ist die im Außen erblickte zufällige Schönheit, welche uns mit Sicherheit und Frieden im Innern beschenkt. Eine weitere Sicherheit, die ich dir geben kann, ist die, dass dir niemals der Himmel auf den Kopf fallen wird, obwohl das bei manchen Menschen durchaus hilfreich wäre, weil leichte bis mittelschwere Schläge auf den Hinterkopf das Denkvermögen beträchtlich erhöhen. Der Himmel ist das, was über dir bleibt. Aber achte auf all jenes, das zwischen dir und dem nie fallenden Himmel herumfliegt. Deine Sicherheit schwindet, wenn Schadgase den Luftraum vergiften oder Raketen aufsteigen, um dir, anders als die Sterne es tun, auf den Kopf zu fallen. Deine Sicherheit vergrößert sich, wenn du Verantwortung übernimmst und die dir von anderen aufgezwungene Unsicherheit kämpferisch zurückweist. Der Himmel hat Bestand. Die Sterne strahlen dir heute und bis zu deinem letzten Tag entgegen. Du erfreust dich an ihrer Helligkeit, an ihrem Funkeln. Es ist die erhabene Tiefe des Weltenraums, die dich damit aussöhnt, bisweilen das einzige Irrlicht im ganzen Universum zu sein. Schaue in den Himmel, um zu lernen, dass jedes winzige Flackern ein Trugbild sein könnte, bevor du es schließlich als Teil eines stabilen Sternbildes erkennen wirst. Strecke dich nach dem morgendlichen Aufstehen so, als könntest du dich zu einem der vielen Sternbilder ausdehnen. Mit dieser körperlichen Sternenübung, mit dieser Sternbildgymnastik begrüße jeden neuen Tag, und du feierst täglich ein Neujahrsfest. Die letzte Sicherheit, die ich dir gebe, ist die, dir niemals eine Antwort schuldig zu bleiben. Dabei kommt es weniger auf das Richtige oder Falsche meiner Antwort an, sondern auf die Antwort als Teil eines Gesprächs. Wenn wir es nämlich verlernen, mit uns, mit den Umgebungswesen und mit dem Universum ins Gespräch zu kommen, wird uns vielleicht wirklich dereinst der Himmel auf den Kopf fallen.







Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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