Jenny Cazzol für #kkl23 „Leitsterner und Irrlichter“
Nachthimmel
Ein Brief, geschrieben, in einer Nacht ohne Sterne
Hannah,
ich weiß, es ist altmodisch, dass ich dir schreibe, aber ich weiß einfach nicht, wie ich nach all der Zeit, nach allem, was zwischen uns passiert ist, sonst bei dir melden soll. WhatsApp wäre mir hierfür irgendwie zu banal und seltsamerweise fühlt es sich gut an, wie der Stift über das Papier kratzt. So als ob auf diese Art und Weise alle meine Worte, meine Gefühle für dich, meine Erinnerungen und alles, was ich dir sonst nie gesagt habe oder sagen konnte, aus mir herausfließen würden. Direkt in das Papier hinein und damit zu dir.
Du merkst schon, ich labere mal wieder ziemlichen Bullshit daher (oder schreibe ich ihn eher?) Wenn du jetzt hier wärst, würdest wahrscheinlich die Augen verdrehen und dann würdest du lachen und mir eine Kopfnuss verpassen. Ich weiß, es klingt kitschig, aber ich vermisse deine Kopfnüsse, Hannah. Das tue ich wirklich. Ich vermisse auch dein ansteckendes Lachen und die Art und Weise, wie du nach der Kopfnuss immer meine Haare gestreichelt hast. Kurzum, Hannah, ich vermisse dich. Vermisse uns.
Verdammt, eigentlich war dieser Brief nicht dazu gedacht, dir zu sagen, dass du mir fehlst. Im Gegenteil. Eigentlich habe ich angefangen, dir zu schreiben um dir zu erzählen, dass es mir endlich wieder halbwegs gut geht. Ich habe einen neuen Job. Bin jetzt Barmann, wenn du es genau wissen willst. Und die Sache fordert mich ganz schön, aber es macht auch Spaß, endlich wieder unter Menschen zu sein, Kontakte zu knüpfen, sich einfach nur zu unterhalten. Ich hätte nie gedacht, dass das jemals wieder möglich sein würde. Und ich weiß jetzt, dass du Recht hattest. Du hattest die ganze Zeit über Recht, Hannah.
Du hattest recht, als du mir gesagt hast, ich solle mich nicht so sehr einigeln, als du mich gewarnt hast, dass meine Ängste nicht mehr gesund waren und du angefleht hast, mir doch endlich professionelle Hilfe zu suchen. Du hattest so recht, Hannah mein Schatz, und ich war so blind.
Doch ich hab das erst gecheckt, als es schon fast zu spät war. Irgendwann habe ich es dann nicht mehr aushalten und eine Therapie angefangen, aber erst, als du schon längst weg warst. Trotzdem habe ich mich meinen Problemen gestellt. Ich würde dir jetzt gerne sagen, dass ich sie auch alle gelöst habe, aber wir beide wissen, dass eine Sozialphobie nicht so einfach zu heilen ist.
Nichtsdestotrotz zeigt die Therapie bei mir mittlerweile echt Wirkung und jetzt versuche ich, die Fehler, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, wieder gut zu machen. Ich war blind, Hannah. Blind vor Angst und ich weiß, dass ich dich deshalb so manches Mal von mir weggestoßen und verletzt habe.
Jetzt bin ich endlich wieder halbwegs klar im Kopf und erkenne, wie oft und wie sehr ich dir weh getan habe. Und es tut mir so endlos leid, mein Schatz. Du warst das einzige Licht in einer langen Periode der Dunkelheit und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich immer wieder versucht habe, dich auszulöschen und mit mir hinab in die Finsternis zu ziehen. Dafür möchte ich dich um Verzeihung bitten. Ich weiß, dass du mir wahrscheinlich nicht sofort vergeben können wirst und das erwarte ich auch gar nicht. Aber ich möchte es trotzdem einmal versuchen.
Mir ist nun klar, dass ich lange Zeit ein Feigling war, der sich seinen Problemen nicht stellen wollte. Das ist jetzt nicht mehr so. Ich bin ein gutes Stück erwachsener geworden im letzten Jahr und vieles hat sich verändert. Mein Umzug, der neue Job, ja sogar einen neuen Haarschnitt habe ich mir zugelegt. Doch das meiste davon sind nur Äußerlichkeiten. Die Dinge, die wirklich zählen, das sind die vielen kleinen, guten Dinge im Leben. Winzig kleine Punkte des Glücks und der Freude in diesem See der Dunkelheit, der das Leben doch ist – wie Sterne am dunklen Nachthimmel.
Diese Dinge, die Sterne, lassen sich nicht so einfach auslöschen. Sie sind immer da, auch wenn Wolken einem gerade den Blick vernebeln. Die Sterne leuchten einfach weiter, auch wenn man sie manchmal nicht sieht. Ich muss immer wieder an unsere Reise nach New York denken und daran, dass du mich in dieses Museum geschleppt hast, um mir dein Lieblingsbild von Van Gogh zu zeigen … Wie hieß es noch gleich? Ich glaube „Sternennacht“, oder so ähnlich. Jedenfalls, die Sterne auf diesem Bild waren riesig und irgendwie total abgefahren und episch, als ob der gute Van Gogh sie halluziniert hätte, oder so etwas in der Art. Aber weißt du was? Ich glaube, das hat er gar nicht. Ich glaube mittlerweile, dass Sterne wirklich so aussehen, und wir nehmen sie anders wahr.
Ja, ja, ich weiß, wenn du jetzt hier wärst, würdest du mich wahrscheinlich für komplett verrückt erklären, oder mich fragen, was für seltsame Drogen ich heute eingeworfen habe. Aber Hannah, ich bin nicht verrückt geworden. Im Gegenteil: Ich habe schlicht und ergreifend wieder angefangen die Sterne zu betrachten. Und dabei habe ich gemerkt, wie sehr ich dich immer noch liebe und dass ich dich, wenn ich ganz ehrlich zu dir und zu mir selbst bin, wie blöd vermisse.
Das soll dich jetzt nicht unter Druck setzen oder so. Mir ist immer noch bewusst, dass ich während unserer Beziehung ganz schön viel bescheuerten Mist gebaut habe. Vielleicht zu viel Mist, als ob wir jemals wieder zueinander finden können. Aber so leicht gebe ich die Hoffnung nicht mehr auf. Und ich weiß auch, dass es dir im Moment, alles andere als gut geht. Die Krankheit deiner Mutter nimmt dich ganz schön mit, hat Tina mir erzählt. Ich kann mir kaum vorstellen, wie fertig du sein musst. Ich an deiner Stelle, wäre wahrscheinlich schon längst komplett durchgedreht vor Angst.
Aber, nein, Halt! Stopp! Realitätscheck: Es soll jetzt gerade einmal nicht um mich gehen. Was ich dir eigentlich sagen will, ist: Ich bin für dich da, falls du mich brauchst. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, egal, was du brauchst. Ein Anruf genügt, eine Nachricht im Chat, ein Besuch bei der Arbeit. Ich bin da, jederzeit. Bin deine Schulter zum Ausweinen, dein Punching Ball, dein Drinking Buddy oder der schräge Typ, der einfach nur versucht dich aufzumuntern und dich zum Lachen zu bringen. Für dich würde ich die Welt anhalten, den Lauf der Zeit abbremsen, nur damit es dir ein wenig besser geht. Weil ich es dir schuldig bin. Und weil ich dich liebe.
Noch ein letztes Wort und dann verspreche ich dir, dass ich damit aufhöre so nervtötend kitschig zu sein. Hannah, lass mich dein Stern am Himmel sein. Ich weiß, dass du im Moment noch keine Sterne siehst, aber mit mir kannst du sie neu entdecken, ich schwöre es dir.
Übermorgen Abend soll der Himmel endlich wieder aufklaren. Ich habe einen Termin gemacht, in der Sternwarte, unserem alten Platz, und den guten alten Herrn Kreutzer davon überzeugt, dass er uns eine Privatführung gibt, nur für uns beide.
Wirst du kommen? Ich hoffe es sehr. Denn drei Dinge werden sich für mich niemals ändern:
1. Ich liebe dich.
2. Da oben, da leuchten die Sterne
3. Und da unten, da leuchten wir
(hoffentlich gemeinsam)
In Liebe,
Dein Simon
Jenny Cazzola, Jahrgang 1996, lebt in Südtirol. Sie hat Kommunikations- und Kulturwissenschaften studiert und arbeitet im Marketing. Nebenbei schreibt sie Artikel für ein lokales Nachrichtenportal. Ihre große Liebe gilt allerdings den Kurzgeschichten, von denen sie schon ein gutes Dutzend in Anthologien veröffentlicht hat. Besonders stolz ist sie auf die Anthologien „Urban Fantasy: Going Intersectional“ von Askin-Hayat Dogan & Patricia Eckermann, das Nachfolgeprojekt „Urban Fantasy: Going Queer“, von Askin-Hayat Dogan & Sarah Stoffers, die beide jeweils mit dem silbernen Stephan ausgezeichnet wurden, sowie diverse Spendenanthologien. Jenny ist die selbsternannte Queen of Kurzgeschichten. Unter diesem Namen findet man sie auch auf Facebook, Instagram und Twitter.
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