Klaus Enser-Schlag für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter“
Wintertraum
Es war an einem trüben Dezemberabend, als sich meine Fantasien, langsam und unbemerkt, in seltsame Träume auflösten. Ein Traum blieb mir in Erinnerung und seine Bilder stehen auch heute noch so klar vor mir, als hätte ich sie erst gestern gesehen. Ich ging durch einen dunklen Wald. Es war tiefe Nacht und ein eisiger Wind pfiff böse durch die nackten Stämme riesenhafter Bäume. Ich fror erbärmlich und wünschte mir, bald zu einer Herberge zu gelangen, in welcher ich mich erwärmen und stärken konnte. Plötzlich sah ich ungefähr 10 Metern vor mir ein Licht in der unheimlichen Dunkelheit. Es schien wie von einer riesigen Kerze zu kommen, denn es flackerte im Wind, der, obwohl er so heftig wehte, das Licht nicht zum Erlöschen bringen konnte. Plötzlich hörte ich eine liebliche Stimme. Es war, als ob das Licht zu mir sprechen würde.
„Komm zu mir, ich werde dir Schutz und Geborgenheit geben. Wenn du mich in deinen Händen hältst, wirst du nie wieder frieren“. Die Stimme klang so schön, wie ein Gesang der Sirenen. Es zog mich wie magisch zu dem Licht. Doch kaum hatte ich mich ihm bis auf drei Schritte genähert, bemerkte ich, dass hinter dem goldenen Schein ein pechschwarzes Moor wie ein böses Ungeheuer lauerte. Es schmatzte begierig und schwarze Blasen zerplatzten blubbernd und lechzend an seiner Oberfläche. Um ein Haar wäre ich in diesem Morast auf ewig versunken. Plötzlich verwandelte sich das Licht in eine giftgrüne Flamme und schoss bis zu fünf Metern hoch! Ein zorniges Gebrüll erklang wie aus dem Munde von tausend Teufeln. Offensichtlich galt dieser Groll mir, weil ich die wahre Identität des Lichtes noch rechtzeitig erkannt hatte. Entsetzt floh ich von diesem unheimlichen Ort und strauchelte weiter durch Unterholz und dichtem Gestrüpp.
Bald schlotterte ich vor Kälte und drohte schon vor Hunger und Erschöpfung das Bewusstsein zu verlieren, da gewahrte ich ein anderes Licht, welches dem ersten sehr ähnlich sah, nur war es noch größer und schöner. Wieder erklang eine wundervolle Stimme, die mir zu rief: „Komm zu mir. Ich bin das wahre Licht der Freude und des Lebens! Wer sich an mir wärmt, der wird nie wieder Not, Kummer und Verzweiflung erdulden müssen!“ Mit letzter Kraft schleppte ich mich zu dem Licht, doch als ich noch drei Schritte von ihm entfernt war, sah ich einen schrecklichen Abgrund, der sich hinter dem Licht verbarg. Hätte ich nicht jäh angehalten, wäre ich in den unendlichen tiefen Abgrund gestürzt! Unter Aufbietung meiner letzten Kräfte taumelte ich von dem trügerischen Licht hinweg, als sich dieses plötzlich in eine blutrote Flamme verwandelte, welche sich mit zornigem Gebrüll über den gefrorenen Waldboden ergoss.
Ich war am Ende meiner Kräfte angelangt. Völlig erschöpft setzte ich mich auf einen Baumstumpf und fühlte den nahen Tod. Noch einmal blickte ich zu den Sternen empor und mir war, als ob von dort oben ein wunderschöner Choral erscholl, der mich auf meiner letzten Reise begleiten und trösten wollte. Da fiel einer der Sterne vom Himmel. Er landete direkt neben mir auf dem Baumstumpf. Der Himmelskörper leuchtete nur schwach und flackerte wie eine bald verlöschende Kerze. Da vernahm ich eine Stimme. Sie war schwach, müde und heiser. „Nimm mich doch bitte in deine Hände und wärme mich ein wenig“, bat der kleine Stern. „Es ist so dunkel, ich friere und bin zu Tode erschöpft. Schenke mir ein wenig von deiner Gnade“. Obwohl ich mich selbst so sterbenselend fühlte, nahm ich den kleinen Stern in meine Hände, küsste ihn und versuchte ihn zu wärmen.
Plötzlich erglühte der Himmelkörper wie pures Gold und wurde größer und größer. Je größer er wurde, umso mehr Wärme spendeten seine Strahlen. Es war, als ob mich die Sonne in dieser eisigen Nacht wärmte, damit ich am Leben bliebe. Mein Blut kam immer schneller in Bewegung und neue Energie erfüllte meinen Körper. Alle Ängste, die Verzweiflung und die Todessehnsucht wichen Lebensmut und Zuversicht. Der kleine Stern war aus meiner Hand wieder in den Himmel empor gestiegen und glänzte dort als strahlend goldenes Gestirn. Er zeigte mir den Weg aus diesem schrecklichen Wald und als ich die Lichter eines Dorfes erblickte, dankte ich meinem Freund dort oben mit Tränen der Dankbarkeit in den Augen.
Als ich erwachte, wusste ich, was mir dieser Traum ans Herz legen wollte. Wie oft hatte ich die äußere Schönheit bewundert und war unerreichbaren Traumbildern nach gelaufen. Und doch sind es oftmals gerade jene Dinge, die uns erst auf den zweiten oder dritten Blick auffallen, um sich dann als die wahren Glücksbringer für unser Leben zu erweisen…

Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,
Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)
Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,
Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen
in Anthologien.
Mehr zu meiner Arbeit unter:
https://www.klaus-enser-schlag.com/
und
https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag
Interview mit Klaus Enser-Schlag HIER
Über #kkl HIER