Bernhard Horwatitsch für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter“
Homo sum, humani nihil a me alienum esse puto (Terenz)
Von Zielen und Sternen

Dass ich selbst schon über viele Jahre einem Leitstern folge, bedeutet nicht, dass ich auch ein Ziel habe. Mit den Sternen ist das so eine Sache. Als Menschen überleben wir sie nicht. Wenn ich morgens aufstehe, sehe ich dieses Licht dem ich folge. Wenn ich abends zu Bett gehe, ist dieses Licht dem ich folge noch immer scheinbar an der gleichen Stelle wie am Morgen. Ich scheine diesem Licht kein Jota näher gekommen zu sein. Und doch folge ich ihm. Einem Telos zu folgen ohne das Ende zu kennen, ja ohne Hoffnung, es je zu erreichen? Wir kommen und gehen; jeder Augenblick bringt Tausende her und nimmt Tausende hinweg, von der Erde: sie ist eine Herberge für Wandrer, ein Irrstern, auf dem Zugvögel wegeilen. So beschreibt es Johann Gottfried Herder in seinen das ausgehende 18. Jahrhundert prägenden Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Herder definiert den Menschen als den Mittelring zweener Welten. Einerseits ist der Mensch ein Tier, erd- und triebverhaftet. Als Tier können wir Menschen unsere Triebe befriedigen. Vielen reicht das schon. Als Mensch streben wir stets zu Höherem, ja im Sinne des damaligen Idealismus streben wir gar zur Unsterblichkeit. Dieser Widerspruch macht uns seit jeher aus. Im Rahmen der kapitalistischen Ideologie der totalen Gesellschaft hatten wir das zwischenzeitlich beinahe vergessen, weil wir als Individuum nur durch totale Anpassung existieren können. Aber das Tier lebt sich aus, und wenn es auch höhern Zwecken zufolge sich den Jahren nach nicht auslebet, so ist doch sein innerer Zweck erreicht; seine Geschicklichkeiten sind da, und es ist, was es sein soll. Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage, auch wenn er lebenssatt aus der Welt wandert. (Herder) Unter diesem Blickwinkel erfordert die aktuelle ökonomisch-polititsche Zerr-Lage, dass wir als Menschen das Telos freier Selbstbestimmung wieder zurück gewinnen.
Den Verlust unserer Selbstbestimmung beschreibt Adorno in seinen soziologischen Schriften so: Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse, welche die Geschichte ausmacht und ohne die es den Menschen schwer geworden wäre, fortzuexistieren, hat sich in ihnen derart sedimentiert, dass die Möglichkeit, daraus ohne unerträgliche Triebkonflikte auch nur im Bewusstsein auszubrechen, schrumpft. Sie sind, Triumph der Integration, bis in ihre innersten Verhaltensweisen hinein, mit dem identifiziert, was mit ihnen geschieht. Der Prozess zehrt davon, dass die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken. Der Kitt, als der einmal die Ideologien wirkten, ist von diesen einerseits in die übermächtig daseienden Verhältnisse als solche, andererseits in die psychologische Verfassung der Menschen eingesickert.
Dass der Mensch total erfasst wurde, bis in sein Innenleben hinein, das bedeutet, dass nicht mehr Weitsicht, Autonomie und Spontanität, sondern Anpassungsfähigkeit und Konformismus zu überlebensnotwendigen Charakter-Dispositionen wurden. Wir halten die Regie inne über unser Konsumverhalten, mehr nicht. Was wir zuletzt aber erlebten – und jetzt komme ich auf das, was ich eigentlich sagen will – was wir erlebten (und immer noch erleben) in der Pandemie ist die Auflösung dieser Kontrolle. Wir erleben, dass Kulturindustrie, Technikbegeisterung und Sport alleine nicht ausreichend Sinn stiften. Adornos Feststellung der totalen Gesellschaft, trifft nicht mehr zu, hat sich schon vor Corona an den Rändern aufgelöst und trat durch die Pandemie-Tür in die gesellschaftliche Mitte. Wenn aber derart sedimentierte Ideologien zerfallen, dann entsteht ein Sinn-Vakuum. Erfreulicherweise gibt es in der Natur kein vollständiges Vakuum. Wir alle können nach Auflösung der kapitalistischen Ideologie einer totalen Konsum-Gesellschaft wieder neu lernen, dass der Mensch von Beginn an ein zerrissenes Wesen ist. Es ist offensichtlich, dass eine Ökonomie die von uns fordert mehr zu konsumieren als wir als Tier benötigen, nur um das Nötigste zu erhalten, das wir dann als Tier brauchen, kein freies Telos zulässt. Mit dem Hut der Freiheit gekrönt und mit dem Gurt des Himmels gegürtet, setze fröhlich deinen Wanderstab weiter. (Herder)
Der Prosaist
all diese ledernen Schriften
mit Worten die sich nicht reimen
nicht Satz auf Satz vereinen
will man uns vergiften
das denk ich mir zuweilen
von all der Prosa, den Romanen
das sind doch nur Brosamen
von Dichtern die nichts peilen
Ihr Gift ist keine Dotation
Korinthen werden aufgeblasen
mit aufgereihten Phrasen
gebrüllt durchs Megaphon
doch beim reimen
muss man denken
muss stilvoll Worte lenken
damit Gedanken keimen
ohne Vers getrockneten Parolen
mangelt es an Kraft
und fehlt fluider Saft
sie sind der Zeit gestohlen
Doch den Poeten bindet keine Zeit
immer jung und appetitlich in Gestalt
wird Poesie nie wirklich alt
/entrückt, verzückt vom Augenblick beglückt/
verklärt in milde Heiterkeit
/Poeten edler Quellen Stück/
Bernhard Horwatitsch, *1964, München, Dozent für Recht, Ethik und Literaturgeschichte, hat bereits in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Letzter Roman »Das Herz der Dings«, www.mabuse-verlag.de
Akrobat für Gedankenspiele, regelmäßiger Autor im Philosophie-Magazin Lichtwolf (Freiburg) und der Edition Schreibkraft (Graz)
Gespäch / Interview mit Bernhard Horwatisch und Jens Faber-Neuling HIER
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