Thomas Steiner für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter“
ich habe niemals etwas studiert
aber alles gelebt, oder so ähnlich
schreibt artaud. klingt gut
aber – alles gelebt? ich hab mal
ein huhn geköpft. ich hab mal
mein eigenes blut gesehen. ich bin mal
eine treppe runtergefallen.
ich war mal verliebt. ja!
krieg?
krieg gab es
in jeder sekunde meines lebens.
erlebt habe ich keinen außer
ein bisschen clashes in nordirland. naja.
jetzt habe ich hunger. orange. ich schäle mir
eine orange.
für den hund kann ich nichts
das wenigstens stimmt. niemals, niemals
hätte ich den hund erschaffen. der hund ist hässlich, den hund
den mag ich nicht.
wieso denke ich da an IHN, der den hund erschaffen hat?
er hat so viele fehler gemacht. mein gebiss, zum beispiel.
mein gebiss ist fehlerhaft. der ganze stoffwechsel
ist fehlerhaft. & viel von der musik, das ist schade.
ER hat keine ahnung von musik.
an der straßenkreuzung
stehen bismarck
& eine bank
die kreuzung ist die häßlichste
die sonne scheint
warum hier stehen
es ist kalt
es schneit
die straßenbahn pfeift im eis
bismarck ist gefroren
das scheint ihn nicht zu kümmern
ich mochte ihn nie
er wird uns alle überleben.
warum er huste
fragte ich jesus
weil ich mich wunderte
denn es war warm
& die hunde schauten her zu uns.
warum muss ein jesus husten?
er doch nicht, dachte ich.
die hunde standen im schatten
& warteten. niemand sagte ein wort.
der schatten war grün vor hitze
& die hunde waren bedrohlich.
artaud hat gesagt
es gibt einen zustand, in dem man tot ist.
er meinte
dass das herz nicht schlägt
aber die träume sind noch da.
er hat nie gelacht, scheint mir
aber da kann ich mich irren.
auch über die lüge hat er viel gesagt.
Thomas Steiner, geboren 1961 bei Reutte/Tirol.
Einzelveröffentlichung zuletzt: mein horizont ist der first der nachbarhäuser (gedichte). hochroth-verlag, 2013.
Aktuell in: Am Erker 82 (2022), erostepost #63 (2022), #kkl21.
Über #kkl HIER