Dr. Kevin Riemer-Schadendorf für #kkl23 „Leitsterne und Irrlichter“
Der Bretterzaun
Nach einem wochenlangen Impfmarathon gegen Gelbfieber, Typhus und Tollwut im Hamburger Tropeninstitut flog ich im Sommer 2015 geschäftlich ins westafrikanische Togo – einem kleinen Land umringt von Benin, Ghana und Burkina Faso. Damals wusste ich nicht, dass diese Reise bereits am ersten Tag mein künftiges Weltbild prägen würde.
Ich landete kurz vor Mitternacht auf dem internationalen Flughafen von Lomé – oder genauer gesagt auf dem Aéroport Gnassingbé Eyadéma. Die Nacht war zwar schwül, aber entgegen der zeitgleichen Hitzewelle in Deutschland wehte ein leichter, fast angenehm kühler Wind.
Nach kurzer Suche fand ich einen Taxifahrer, der mich zu meinem Hotel an die Küste der Hauptstadt fuhr. Mein zugegeben ausbaufähiges, jedoch straßentaugliches Französisch stieß sofort auf seine verbalen Grenzen in Form meines Fahrers. Bei seiner scheinbar endlosen Vokalaneinanderreihung ohne Punkt und Komma verstand ich nur mit Mühe jedes zweite Wort. Die lautstark frankofone Rap-Musik aus dem Auto, der Fahrtwind und der Straßenlärm trugen zusätzlich wenig zur Verständigung seiner enthusiastischen Tirade bei.
Die eigentlich angenehme, feuchtwarme Meeresluft wurde immer wieder mit dem stechenden Gestank von rauchenden Schornsteinen und verbranntem Plastikmüll durchzogen. Unsere nächtliche Fahrt führte uns vorbei an kleinen Imbissen, grell beleuchteten Marktständen und diffusen Wellblechhütten. Sie wurde jedoch jäh unterbrochen von einer Militärsperre in einer Gegend, wo man als Neuankömmling insbesondere des Nachts nicht unbedingt halten möchte. Zwei in Flecktarn gekleidete Soldaten mit roten Baretts und Kalaschnikows versperrten unserem rostbraunen Renault die Weiterfahrt. Einer der Soldaten begrüßte uns militärisch knapp auf Französisch, leuchtete mir mit einer Taschenlampe grell ins Gesicht und wechselte daraufhin ins Ewe; einer Sprache, die vornehmlich im südlichen Togo, Ghana und Benin gesprochen wird. Nach kurzem Austausch durften wir passieren. Laut meines Fahrers eine obligatorische Kontrolle in dieser Gegend. Der Geldschein, der meines Wissens eben noch bei der Gangschaltung lag, war zumindest verschwunden – aber vielleicht erinnere ich mich nur nicht mehr genau, denn ich war zugegeben etwas angespannt.
Im Hotel angekommen, spülte ich die nunmehr täglich notwendige Malaria-Tablette, entgegen der Packungsbeilage, mit einem dunklen Awooyo-Bier hinunter und legte mich unter mein Moskitonetz schlafen.
Verführerisch rauschte am Morgen vor meiner Hütte die tosende Brandung des Golf von Guinea, sodass ich mich kurzerhand zu einem Strandausflug entschloss. Meine geschäftlichen Termine verschob ich auf die Abendstunden, da zu dieser Zeit die Malaria-Tropica übertragenden Mücken einem draußen ohnehin nicht in Ruhe ließen.
Der Strand war nahezu menschenleer, weil das Baden hier aufgrund der starken Strömung lebensgefährlich ist. Er wurde rechter Hand von architektonischen Vorboten des großen Hafens der Zwei-Millionen-Stadt begrenzt. Ein Blick nach links ließ den Strand nahezu grenzenlos wirken. Nur hier und da kauerten Menschen ein Stück entfernt hockend am Strand, um gleich darauf wieder auf die schmale Anhöhe zu verschwinden. Der Bereich vor meinem Hotel war gepflegt und mit bequemen Liegen und schattenspendenen Sonnenschirmen gesäumt, auf denen sich jüngere Pärchen aus dem Libanon, ghanaische Familien und französische Geschäftsleute sich ihr reichhaltiges Frühstück schmecken ließen.
Unsere Anlage wurde von einem mannshohen Bretterzaun begrenzt, deren Enden jeweils in den Strand mündeten. Ich verließ den Hotelstrand und vernahm nur noch wage die leisen Reggae-Beats der vertrauten Anlage, als bereits kurz nach besagten Zaun eine gänzlich andere Welt begann. Notdürftig zusammengenagelte Bretterbuden und wackelige Wellblechhütten reihten sich dicht an dicht. Eine ältere, mit buntem Tuch bekleidete Frau badete ihre Kinder in einem alten Plastikbottich, die mein Kommen mit großem Johlen quittierten. Die höhergelegene Abbruchkante des Strandes war mit Plastikresten durchzogen, in der streunende Hunde nach verwertbarem Abfall forsteten. Eine junge Frau hockte wenige Meter vor mir im Sand, die gespreizten Beine behelfsmäßig mit ihren Rockzipfeln bedeckend. Peinlich berührt und etwas ratlos blickten sowohl sie als auch ich auf Anhieb in gegensätzliche Richtungen. Sie sprang daraufhin auf und lief die Strandhöhe hinauf und verschwand hinter selbiger. Nur ein Häuflein frisch aufgeschichteter Sand blieb von ihr zurück. Ich verstand nicht, was hier passierte, bis ich auf ein Häuflein traf, das weniger kunstvoll aufgeschichtet war – jemand hatte hier schlichtweg seine Notdurft verrichtet und nur spärlich mit Sand bedeckt. Mein nunmehr geschärfter Fokus entdeckte weitere menschliche Hinterlassenschaften und auch das kurze Hinhocken und wieder Verschwinden der Slumbewohner von Baguida, wusste ich derweil mit trauriger Gewissheit zu deuten.
Während die Hotelgäste auf der einen Seite des Zaunes ihren Sundowner am Pool genossen, schlichen sich unsere Nachbarn auf der anderen Seite zum Strand und folgten alternativlos dem Ruf der Natur. In Togo war es nur ein Bretterzaun, der die Menschen in Luxus und Armut trennte.
Am Strand zwischen den Meeren aus Wellblechhütten und Atlantik setzte ich mich kurzerhand in den Sand zu einem freundlich grüßenden Mann, der, wie ich in etwa Ende dreißig war. Er stellte sich mir als Kodjo vor. Wie ich von ihm erfuhr, werden alle männlichen Togolesen, die an einem Montag geboren werden mit diesem Vornamen bedacht – als ich ihm erzählte, dass ich ebenfalls ein Montagskind bin, gaben wir uns erneut die Hand und feierten unsere Namensbrüderschaft. Ab sofort hieß ich also ebenfalls Kodjo.
Ich berichtete ihn von der Diskrepanz von Arm und Reich der beiden Zaunseiten und dass mich das tief berührte. Er blickte aufs Meer und nach kurzer Überlegung wies er auf die großen Fischtrawler am Horizont. „Die sind ein beträchtlicher Teil des Problems“, skandierte er zu mir. Ich verstand nicht sogleich, doch er erklärte mir, dass die Menschen hier früher Fischer waren und auch gut vom Fischfang leben konnten. „Doch heute funktioniert das nicht mehr“, fuhr er fort. „Die westafrikanischen Fischfang-Lizenzen gehen unter anderem an große Fischereikonzerne aus Europa, die kaum etwas für die Einheimischen übrig lassen. Von den europäischen Fischfängen und deren Erträgen haben wir Fischer aus Lomé nichts – daher der Zaun“, endete er seinen kleinen Vortrag.
Drei Jahre nach der Reise war ich zu einer Fachtagung in Dresden eingeladen. In der Mittagspause saßen wir in einem noblen Fischrestaurant am Elbufer. Nach kurzem, oberflächlichem Plausch über die Vorträge der Tagung, wechselte das Gespräch auf das medial allgegenwärtige Thema der Flüchtlingskrise.
Ein wohlbeleibter Geschäftspartner blickte auf die aufgeschlagene Sächsische Zeitung und führte blindlinks ein großes Stück Thunfischsteak in seinen Mund. Noch kauend zitierte er eine abgebildete Statistik, wonach letztes Jahr 168.000 Subsahara-Afrikaner in Europa Asyl beantragt hätten. „Immerhin knapp 30.000 Schwarzafrikaner weniger als vorletztes Jahr!“, resümierte er zufrieden. Er tunkte schmatzend ein weiteres Thunfischstück in die fettige Sauce hollandaise. „Langsam haben die wohl begriffen, dass es bei uns nichts zu holen gibt!“
Seine weiteren Ausführungen vernahm ich nur verschwommen. Vielmehr starrte ich schweigend auf den sanft und gleichmäßig dahinfließenden Strom, nippte an meinem Wasser und dachte an Kodjo. Noch bis heute schäme ich mich für dafür.

Dr. Kevin Riemer-Schadendorf wurde 1979 in Hamburg geboren. Er ist studierter Kulturwissenschaftler und promovierte im Bereich Nachhaltigkeitsmanagement. Seine ersten Reiseerzählungen erschienen 2017 im Berliner Frieling Verlag. Es folgte seine autobiographische Anthologie „Weltwärts, um die Enge der Heimat zu begreifen“, die 2020 im Leipziger Einbuch-Verlag erschienen ist. 2021 publizierte der Treibgut-Verlag aus Berlin seine Novelle „Leiden für ein Feuerwerk: Die Flucht der S. Rebesky“. Sie beruht ebenfalls auf wahren Begebenheiten und schildert die Flucht seiner Großmutter im Zweiten Weltkrieg.
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