Ingrid Maestrati für #kkl24 „Erlauben“
VERSCHLUNGENE WEGE
„Erlauben Sie“, sagte der Fahrgast, indem er sich auf den freien Platz neben mir setzte, „ich kenne mich hier nicht aus und werde Sie um ein paar Auskünfte bitten“.
Eine ungewöhnliche Höflichkeit in einem gerappelt vollen Vorstadtzug, wo man sich nur ansah, vielleicht ein wenig zunickte, aber nicht miteinander redete. Jeder grenzte seinen Privatbezirk mit dem Spielen auf seinem Telefon ab. Da hätten andere doch nur stören können.
Mein Nachbar sagte leise, er sei Flüchtling. Er wollte nur zwei Stationen weiterfahren und suchte eine Adresse, die ich nicht kannte und sofort wieder vergaß. Es war einfach zu früh heute Morgen, um ein Gespräch anzufangen. Der Mann war in Eile – innerlich. Ich wich ihm aus. Um Glockenschlag neun Uhr musste ich im Büro sein und da konnte ich mir keine Umwege erlauben.
Ganz in meine Gedanken versunken achtet ich nicht mehr auf ihn. Als ich mich fertigmachte zum Aussteigen, merkte ich, dass er nicht mehr da war. Er war einfach gegangen und hatte seine Geige stehen lassen. Also nahm ich sie erst einmal mit zu meinem Arbeitsplatz und tat so, als gehöre sie mir.
Abends, bei mir zuhause, machte ich den Geigenkasten auf. Ein Brief war darin, adressiert „an den Finder, wer immer es sei“. Ich erfuhr, dass es sich um eine kostbare Geige handele, deren Besitzer nicht mehr lebe. Der jetzige Besitzer hatte sie vor Dieben gerettet, die hinter ihm her waren. „Auch Sie werden von jetzt an beobachtet“, fügte er hinzu.
Nirgends ein Name oder eine Adresse dieses sonderbaren Fahrgastes. Ich dachte an Trittbrettfahrer, die im letzten Moment auf Züge aufspringen. Sie gehören nirgends dazu.
Ich drehte die Seite um und las weiter.
„Erlauben Sie mir bitte, dass ich Ihnen eine paar Ratschläge gebe: Gehen Sie nicht zur Polizei, die Diebe sind mit vielen Polizisten befreundet.“
Erstaunt besah ich mir die Geige: Ein bekannter Name war innen eingeschrieben, aber es hätte ja auch eine Fälschung sein können. Die Geige war voller Staub, ich wagte nicht, sie anzufassen.
Der Brief war sehr lang. Der letzte Besitzer der Geige erwähnte seine Flucht. Hals über Kopf war er davongelaufen, „wie ein verirrtes Schäfchen“, sagte ich mir, „querfeldein und nachts, wo keiner ihn sah“.
Wovon hatte er gelebt? Er ging doch allen Menschen aus dem Weg. Öfters sei er schwarzgefahren, sagte er im Brief, und habe sich selbst am Bahnhof noch bis kurz vor der Abfahrt versteckt.
Sein Ziel war diese Hauptstadt und eine bestimmte Adresse, die er nicht notiert hatte, aus Sicherheitsgründen. Jetzt tat es mir leid, sie vergessen zu haben.
Der Brief enthielt weitere Anweisungen. „Leute werden kommen und Fragen stellen und dabei einen ersten Satz sagen: Die Ernte ist eingefahren. Nur wenn Sie diesen Satz ganz am Anfang hören, dürfen sie ihnen die Geige aushändigen. Sonst heben Sie das Instrument einfach auf, bis die richtigen Leute kommen“.
Niemand kam. Ich verstaute die Geige in einer Kiste im Speicher und vergaß sie.
Jahre später kam ein dummer Schwätzer und wollte die Geige haben. Er wusste den Satz, sagte ihn aber nicht am Anfang, sondern am Ende eines nicht aufhören wollenden Redeschwalls. Ich schüttelte den Kopf, aber er stürmte bereits zum Speicher, brach das Schloss der Türe und der Kiste auf und rannte mit der Geige davon. Er rief noch, dass er wusste, wo die Geige sei, er habe es von Freunden erfahren. Dabei hatte ich mit niemandem darüber geredet.
Dann blieb er in einiger Entfernung stehen. „Erlauben Sie“, sagte er, mit dem Geigenkasten unter dem Arm, „der letzte Besitzer lebt nicht mehr. Er ist nie an seiner Adresse angekommen“.
„Immer diese aufdringliche Freundlichkeit“, dachte ich noch, „sind das typische Redewendungen in anderen Ländern oder waren das alles Halunken, die mit ihrer heuchlerischen Unterwürfigkeit Eindruck schinden wollten?“ Jetzt dachte ich wieder an den anonymen Fahrgast. Eigentlich war er sympathisch, aber voller Angst. Von der Geige wusste ich nichts, glaubte jetzt aber, dass sie echt war.
Ich war einem Verräter auf den Leim gegangen, „ein Wolf im Schafspelz“, sagte ich mir, „unverfroren und gewalttätig. Erst hat er das Schaf gerissen, um den Satz zu erfahren und dann hemmungslos zugeschlagen“.
Damit war meine Rolle beendet. Von jetzt an wollte ich nichts mehr mit dieser Sache zu tun haben. Namen wusste ich keine und die handgeschriebenen Anweisungen, ohne Daten und Orte, ließen keine Rückschlüsse zu. Also legte ich den Brief in eine Schublade und kümmerte mich nicht mehr darum.
Lange geschah nichts.
Und dann träumte ich und sah den Fahrgast in einem Tunnel der langsam weiter wurde und immer heller. Er drehte sich um und rief „Danke“ und ich war sicher, dass er seinen Weg gefunden hatte.

Ingrid Maestrati
Jahrgang 1945. Mehrere Lebensphasen: Anfangs ausgedehnte Reisen als Schiffsoffizier und Auslandsaufenthalte in Myanmar und Paris über das Auswärtige Amt. Dann Studium und Arbeit als Psychologin in Paris, in der Industrie und bei Gerichten. Nach meiner Pensionierung: ein französisches Sachbuch in Arbeit und Kurzgeschichten. Mein Buch: UNTERWEGS – Erinnerungen, ISBN 978-3-03883-084-9, 2019
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