Martin A. Völker für #kkl24 „Erlauben“
Bedarf und Bedürfnis
Du weißt noch genau, wie es war, als die ganze Familie um den Tisch herum saß, und du nach der Erlaubnis fragtest, ob das Dessert zuerst gegessen werden darf. Deine Frage, die einer flehenden und zwingenden Bitte glich, wurde verneint. Zu diesem Zeitpunkt hatte dein Onkel die Hälfte seines Schälchens mit Berliner Luft bereits geleert. Das hat dich zunächst empört, weil deine Gaumenlust ebenso erregt war, und Berliner Luft einfach zu verführerisch aussieht und duftet und jede entgegengesetzte Willenskraft schon im Ansatz niederwirft. Dann stiegen jedoch ganz andere Gedanken in dir hoch: Du hast dir vorgestellt, wie eine Welt aussieht, in der sich das Recht des stärkeren Essers durchsetzt; hast dich gefragt, warum wir alles vertilgen müssen, was uns vor die Augen kommt; was das für eine Gesellschaft sein mag, in der alle bloß ihren Impulsen folgen; was deine Mutter dazu gesagt hätte, wenn die ganze Gästeschar nach Belieben in die Küche gestiefelt wäre, um sich zu nehmen, was sie mühevoll erdacht und zeitaufwendig wie liebevoll zubereitet hatte. An diesem Abend hast du deinen Nachtisch deinem Onkel überlassen und gelernt, zwischen All-you-can-eat und Kultur, zwischen Büfettbarbarei und Kochkunst, zwischen Gourmand und Gourmet zu unterscheiden. Und doch blieb ein kleiner Hader in dir zurück, weil du später oft genug erlebt hast, dass andere weniger abwarten, dass sie besser auf sich aufmerksam machen, sich eher durchsetzen können und viel schneller zum Ziel gelangen. Vielleicht ist es aber auch so, dass solche Leute nur schneller satt geworden sind, sie ihre Sattheit mit einem Ziel verwechselt haben, die Sattheit das einzige Ziel ihres Handelns darstellte. Es gibt Menschen, die deshalb nach schneller Sättigung und nachfolgender Ermattung und Betäubung streben, weil ansonsten eine riesenhafte Angst von ihnen Besitz ergreifen würde: eine Angst vor bestimmten Aufgaben, vor der Unwägbarkeit des Lebens, vor der Fülle der Möglichkeiten, die das Leben anbietet, vor den Unmöglichkeiten und Grenzen, welche uns dieses Leben genauso aufzeigt. Allerdings ist die Angst durch das Essen niemals zu besiegen. Die Angst ist ein Nimmersatt, der jeden anderen Nimmersatt zuletzt verschlingt. Das Maßvolle zeigt dir hier einen Ausweg. Dabei geht es nicht um jene Maße, die von außen gesetzt von dir zu erfüllen sind, sondern um das Erkennen, was dir zuträglich ist, welches Übermaß dich dem Selbstzweifel, der Selbstangst, dem Selbstekel zutreibt. Kultiviere stattdessen einen kaum merklichen Hunger, der deine Aufmerksamkeit gespannt hält, der dich, im Gegensatz zur blinden Sattheit, alle Dinge in ihrer feinsten Verästelung sehen lässt, der dich nie daran hindert, das zu finden, wonach andere nie gesucht haben. Es ist unnötig, nach der Erlaubnis zu fragen, um das Gebot der schnellen Sättigung zu übertreten, also zu unterbieten. Das kannst du gut mit dir allein ausmachen. Dennoch wird ein gewisser Rückhalt an Hunger Argwohn erregen, weil die Unbetäubten mehr sehen und fühlen, als sie sehen und fühlen sollen. Wenn es dir erforderlich erscheint, einem Gebot die Gefolgschaft zu verweigern oder eine Erlaubnis nicht abzuwarten, denke immer daran, dass du auch mit Respekt den Anstand versagen kannst.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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