Klaus Enser-Schlag für #kkl24 „Erlauben“
Gefängnis im Kopf
Solange ich denken kann, begleiteten mich Verbote, Ermahnungen und Regeln. Es begann mit den Reglements meiner Eltern, um sich dann im Kindergarten und in der Schule fortzusetzen. Nun liegt meine Kindheit schon lange zurück und damals war es gesellschaftlich nicht geächtet, den Willen der Eltern oder der Lehrer auch mit körperlicher Gewalt durchzusetzen. Als Kind hatte man zu gehorchen und sich „anständig“ zu benehmen. Rückblickend kann ich sagen, dass wir Schülerinnen und Schüler einheitlich auf Linie gebracht wurden. Ich erinnere mich heute noch an einen Satz, den ich als Strafarbeit 100 -mal aufschreiben musste. „Ich möchte fleißig sein und lernen, damit aus mir einmal ein tüchtiger Mensch wird“. Das hat schon etwas von einer Gehirnwäsche. Wir mussten funktionieren und auf den Einzelnen wurde nicht groß eingegangen. Da ich zu der Generation der Babyboomer zähle, waren die Klassen sowieso überfüllt und die Lehrer zogen ihren Stoff sehr straff durch. Es wurde viel getadelt und selten gelobt. Von meinen Eltern hörte ich oft, dass man die eigenen Kinder nicht loben solle, damit sie nicht überheblich und eingebildet würden. In der Schule, in anderen öffentlichen Einrichtungen und sogar daheim hingen zahlreiche Verbotsschilder. Sie ermahnten uns zur Rücksichtnahme gegenüber unserer Mitmenschen, der pfleglichen Behandlung von Gegenständen und zur Ruhe. Damals galt ein Kind als „wohlerzogen“, wenn man es zwar sah, aber nicht hörte. Das Fatale daran war, dass diese Hinwiese und Ermahnungen eine Art geistige Verbotsschilder produzierten. Ich hätte mir als Kind niemals erlaubt, gegen den Willen von Autoritäten zu handeln. Die Strafen waren nämlich meist sehr drastisch und davor hatte ich Angst. Dadurch erlaubte ich mir auch nicht, auf mein eigenes Ich, meine Wünsche und Bedürfnisse zu schauen. Vielleicht hätte ich etwas entdeckt, was mein damaliges Weltbild erschüttert hätte, nämlich, dass so vieles, was mir eingetrichtert wurde, absolut nicht zu meinen Ansichten und Wertvorstellungen passte. Doch wie kann ein Mensch, der sich selbst nicht kennt, auf Wünsche und Gefühle seiner Mitmenschen eingehen? Mein Kopf glich einem Gefängnis, in welchem ich es mir nicht erlaubte, durch die Gitterstäbe hindurch zu schauen, um am fernen Horizont eine ganz andere, für mich weitaus kompatiblere Welt zu entdecken. Es war kein Wunder, dass ich als junger Erwachsener große Probleme mit meiner Umwelt hatte. Ich erlaubte meinen Mitmenschen genauso wenig Freiheit, wie mir selbst. Menschen, die ihre freie Meinung sagten und selbstbewusst agierten, waren mir ein Gräuel. Ich empfand sie als frech, vorlaut und selbstherrlich. Unbewusst beneidete ich sie jedoch um ihren freien Geist und ihre gefestigte Persönlichkeit. Ich hingegen war schüchtern und introvertiert und traute mich nicht, auf andere Menschen zuzugehen, obwohl ich mir Freundschaften und eine Partnerschaft sehr wünschte. Die Angst, etwas Dummes zu sagen, oder die Erwartungen Anderer nicht zu erfüllen, saß wie ein giftiger Stachel im Fleisch fest. Innerlich brodelte es in mir und manchmal glaubte ich, verrückt zu werden, doch noch immer erlaubte ich es mir nicht, aus meinem Kopf-Gefängnis auszubrechen. Erst, als ich einer lebensbedrohenden Lebenskrise gegenüberstand, platzte der Knoten. Es war fast zu spät.
In den Jahren danach lernte ich mich selbst kennen. Ich erlaubte mir endlich, auf mein eigenes „Ich“ zu schauen. Und ich war jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie vielfältig und unterschiedlich sich meine Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle darstellten. Schließlich, in jenem Moment, als ich zum ersten Mal fühlte, dass ich mich als authentischen Menschen selbst lieben konnte, zersprangen die unsäglichen Verbotsschilder in meinem Kopf und ich fühlte mich zum ersten Mal wirklich frei und glücklich. Heute, als gereifter Mensch, habe ich nichts mehr mit dem jungen Erwachsenen gemein, der ich einmal war. Was die Leute über mich denken, ist mir, abgesehen von meinen Freunden und der Familie egal. Sie denken sowieso, was sie wollen. Seit ich mir selbst erlaube, liebevoll und mitfühlend zu sein, kann ich auch anderen Menschen gegenüber so empfinden. In den letzten Jahren habe ich mir sogar Dinge erlaubt, die sich viele meiner Freunde nicht getraut haben. Ich habe sicher manche damit vor den Kopf gestoßen. Und manchmal bin ich noch immer von mir selbst überrascht, wie viel ich mir heute erlaube, ohne natürlich meinen Nächsten damit zu schaden. Das versteht sich von selbst. So komme ich zu der Quintessenz dieser Geschichte: Das größte Geschenk des Menschen ist nicht das, was er von Anderen bekommt, sondern das, was er sich selbst schenkt.

Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,
Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)
Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,
Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen
in Anthologien.
Mehr zu meiner Arbeit unter:
https://www.klaus-enser-schlag.com/
und
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Interview mit Klaus Enser-Schlag HIER
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