Falk Andreas Funke für #kkl24 „Erlauben“
Badezimmer 1965
Endlich einmal will Karl Salz das große Badezimmer der neuen Wohnung benutzen. Normalerweise kommt er ja mit dem kleinen zurecht. Doch als er den himmelblau gekachelten Raum betritt, um Wasser in die Wanne zu lassen, hockt in derselben schon – wie selbstverständlich – Trude, die Nachbarin. Sonst grüßt man sich im Treppenhaus, redet ein paar unverbindliche Worte und Trude, eine waschechte Bayerin, spricht dann immer mit ihrem bodenständigen Akzent. Karl mag das. Man hegt zueinander, so empfindet er es, eine Sympathie auf Distanz.
Trude grinst Karl entgegen, schaumgekrönt und offenbar nicht im Geringsten beschämt. Wie ein Zepter hält sie eine quietschgelbe Kunststoffente in der Hand, ironisch eine Bade-wannenkönigin darstellend. Den lachenden Schalk im nassen Nacken. Vom ersten Schrecken sprachlos gemacht, versucht Karl seine Überraschung zu verbergen, gibt vor, etwas zu suchen, öffnet das Schränkchen über dem Waschbecken. Ein Alibert, verspiegelt, drei Regale darin, auf denen Hygieneartikel lagern. Eine rotweiße Zahnpastatube mit der Aufschrift Ajona: Man verwende sie sparsam. Die einem Tropfen entsprechende Menge genügt. Karls Mund verspielt sich in ein unbewusstes Lächeln. Dass es diese Marke noch gibt! Mit immer noch demselben antiquierten Spruch auf dem Tubenrücken. Eine Reminiszenz aus der Kindheit. Den Spruch hatte er manchmal vor sich hingesagt: wie ein Schauspieler, der seinen Text übt.
Ein Plantsch-Geräusch holt ihn aus seiner Träumerei zurück. Trude! Er spürt ihren Blick im Nacken und auch ihr Grinsen. Eine Rotzigkeit, die schon ans Unverschämte grenzt. Die plantscht, als ob sie anzeigen wollte: Ich bade hier, weil ich es will, ohne deine Erlaubnis, und ein schlechtes Gewissen habe ich auch nicht dabei. In meinem Badezimmer, denkt Karl. Die nette Trude von nebenan. Er kann es nicht fassen.
Karl wendet sich um, will der Badenden auf den Kopf zu die Frage stellen, was sie in seiner Wanne verloren hat. Und wie sie überhaupt in seine Wohnung gekommen ist. Er kann sich nicht daran erinnern, sie hereingelassen zu haben. Nicht, dass er etwas gegen die forsche, altlinke Bayerntrude hätte. Man hegt sogar einen verwandten Sinn für Humor. Aber Karl möchte doch lieber gefragt werden, bevor jemand in seiner Wanne badet. Und wem er gestattet, darin zu plantschen.
Trudes Minenspiel: soeben noch spöttisch, wechselt es nun auf halbernst. Sie sagt oder fragt, ob er nicht weiß, dass dieses Bad allen Hausbewohnern zur Nutzung dient. Sie rollt diesen Satz aus mit selbstbewusst-bayrischem Verve, hebt die gewölbten Augenbrauen wie zu einem Fragezeichen und setzt dann auch noch hinzu: Wer zuerst kommt, plantscht zuerst. Eine glatte Provokation!
Beim Einatmen spürt Karl einen Schwall Wut in sich aufsteigen, eine heiße Welle des Unwillens. Was er sich bieten lassen muss: im eigenen Badezimmer! Dass seine Wohnung, sein Bad, wie selbstverständlich offenstehen und eine Bayerntrude von nebenan herein-schneien kann, um zu plantschen, das macht ihn schon wieder sprachlos. Stumm zeigt er der Badenixe seine leeren Hände. Er kann es gerade noch vermeiden, sie zu Fäusten zu ballen. Und sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Er versucht, ein Lächeln hinzubekommen. Wie jemand, der mitlacht, auf dessen Kosten man sich amüsiert.
Und außerdem – Trude senkt ihre Stimme in eine tiefere und leisere Frequenz – hat es mit diesem Bad eine merkwürdige Bewandtnis. Schweigen. Eine merkwürdige Bewandtnis? Karl beugt sich vor Richtung Wanne, um dem Geheimnis, das ihm verraten werden soll, ein Stück entgegenzukommen. In diesem Zimmer, so Trude, schreibe man immer das Jahr 1965. Karl ist sich der Dummheit des Gesichts, das er macht, in keiner Weise bewusst. Bitte? Aber ja! Trude lacht. Neunzehnhundertfünfundsechzig. Kurios ist das schon, wenn man bedenkt, dass wir beide – sie deutet mit dem schaumgekrönten Kopf auf Karl und mit der Ente in der Hand auf sich selbst – wenn man bedenkt, dass wir beide eigentlich Babys sein sollten.
Aber jetzt kommt`s – Trude beugt sich nun ihrerseits Karl entgegen und flüstert in einem Verschwörungstonfall: Dieses komische Zimmer lässt sich überhaupt nur an Tagen finden, die zu dem Jahr 1965 in einer Beziehung stehen. Sie präsentiert ein Mitwisserlächeln und schreibt mit dem Zeigefinger der freien Hand die Jahreszahl 1965 in die von Wasserdampf geschwängerte Luft. Er muss den Kopf abwenden, bar jeglicher Antwortideen. In den beschlagenen Spiegeltüren des Aliberts erblickt Karl sein eigenes Antlitz: mit offenstehendem Mund und dummen Frageaugen. Genauso gut hätte ihm Trude verraten können, er befände sich hier auf dem Mars.
Sie lässt ihm Zeit zum Verdauen. Schaut die Kunststoffente an, als wäre diese ein lebendiges Wesen und in der Lage, sie zu verstehen. Nicht an Karl, nein, an das Spielzeugtier richtet sie nun ihre Worte. Heute ist doch der einundzwanzigste. Das kommt jeden Monat immerhin einmal vor. Die Quersumme aber, doziert die badende Nachbarin, von der Jahreszahl eins und neun und sechs und fünf lautet? Einundzwanzig! Sie dreht den Kopf der Plastikente Richtung Karl. Und wackelt so mit der Hand, dass das Badetier in einer zustimmenden Geste nickt.
Karl rechnet für sich die vier Zahlen nochmal zusammen und kommt – unbewusst gleichfalls nickend – zum selben Ergebnis. Neunzehnhundertfünfundsechzig. Ja. Das ist von einer Traumlogik, der er nichts entgegensetzen kann. Aber wie aufregend ist es außerdem! Man könnte der eigenen Geburt zuschauen, vorausgesetzt, man wäre in diesem Badezimmer zur Welt gekommen. Ein Triumphgefühl steigt in ihm hoch: Wie eine flatternde Fahne, die am Nationalfeiertag gehisst wird. Und wie einst in der Schule, diese aufschießende Glücksrakete im Hals, wenn Karl eine vertrackte Aufgabe, die an der Tafel zunächst altägyptischen Hieroglyphen geglichen hatte, mit einem plötzlichen Ruck des Begreifens verstand. Eine verschlossene Tür begann sich zu öffnen.
Trude setzt nun die Ente am Wannenrand ab und legt ihre Hand auf ein Transistorradio, das daneben auf einem Schränkchen steht. Es ist feuerrot mit hellmarmoriertem Perlmuttbesatz. Und es steht gefährlich nahe am Wasser. Dann aber macht es Klack. Trude hat eingeschaltet. Ein Gitarrenriff und ein synchroner Basslauf setzen nacheinander ein. Mit einem Sturmwind fegen die Beatles durch die treibhausschwüle Badezimmerluft. Day Tripper, Yeah!
Karls Beine beginnen aus einer autonomen Entscheidung zu tanzen. Er zieht sich das T-Shirt über den Kopf, nein, er reißt es sich vom Leib, als sei er ein Torschütze und habe soeben den spielerlösenden Treffer gelandet. Trude lacht ihm entgegen. Got a good reason for taking the easy way out, singen die Beatles. Jetzt sind auch Karls Hosen gefallen. Er steigt über den Rand der Wanne. Aber in Wirklichkeit ist es ein Springen: Hinein ins spritzend aufschäumende Freibadwasser an einem hellblauen Sommertag. Abtauchen mit Trude durch die Tiefen und Untiefen des Wannenbeckens, zwei nackte Kinder im Paradies, angezogen angesogen von einem in der Ferne gurgelnden Abfluss.
Falk Andreas Funke, Autor aus Wuppertal, Jahrgang 1965. Brotberuflich seit 1982 in der Arbeitsverwaltung tätig. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Seit 2001 Mitarbeiter des Satiremagazins ITALIEN, Wuppertal.
Bücher: Tier und Tor, 2004; Ballsaal für die Seele, 2010 (Gedichte, Turmhutverlag, Mellrichstadt), Krause, der Tod und das Irre Lachen, 2012 (kleine Geschichten, Verlag Thomas Tonn), Lausägefisch – Maritime Seelen 2022 (Gedichte, gemeinsam mit Jule Steinbach, Holzschnitte, Kunstbuch-Eigenverlag).
Eugen-Wolff-Literaturpreis der Fachschaft Deutsch, Christian-Albrechts-Universität Kiel, 2004. Erster Platz beim Bad Godesberger Literaturpreis, 2017.
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