Unerlaubte Rache

Karin Schweiger für #kkl24 „Erlauben“




Unerlaubte Rache

Die schwere Tür knarzte vernehmlich in den Angeln, selbst der Schlüssel im Schloss quietschte. Sofort umfing Andi der inzwischen schon vertraute muffige Geruch, diese Mischung aus traditionellem Bohnerwachs, Fahrradschmiere, den Ausdünstungen von zwanzig Mietparteien, dem Geruch von Müll, der noch nicht runtergetragen wurde, und so einigem anderen, das Andi sich jetzt gar nicht vorstellen mochte.

Ausladend breite Holztreppen, die in der Mitte schon durchhingen und lächerlich niedrige Stufen hatten, verrieten jeden Schritt. An jeder Stelle, Andi hatte es ausprobiert. Ganz am Rand genauso wie in der Mitte. Seiner ältlichen rechten Nachbarin jedenfalls konnte er nie verheimlichen, wenn es abends später geworden war – und sie hielt es ihm auch jedes Mal vor.

Drei Stockwerke waren eine sportliche Herausforderung, wenn das Haus über keinen Aufzug verfügte. Von Etage zu Etage verschoben sich die Düfte, die aus den Wohnungstüren herausdrangen. Bei dem Öko-Pärchen im ersten Stock gab es reichlich Knoblauch heute Abend, das Fleisch bei den Selbstverwirklichern im zweiten Stock dürfte in seiner Pfanne schier verkohlt worden sein und vor der Türe seiner linken Nachbarin stank es wie immer erbärmlich nach Jasmin, den sie in einer Duftlampe verströmen ließ.

Rasch drückte Andi seine Wohnungstüre hinter sich zu und tauchte in seine eigene nüchtern-sachliche kleine Welt ein. Spartanisch war die Ausstattung, aber er hatte genügend Platz in der Wohnung, um auch mal einen ganzen Motor zerlegen zu können. Er sog den Geruch von Öl und Schmiere ein, schaltete den Computer ein und fahndete im Frostfach seines Kühlschranks nach der letzten Fertigpizza, die er noch in die Mikrowelle schieben konnte. Nur noch ein Bier im Träger – er musste dringend einkaufen, aber heute nicht.

Heute hatte er Wichtigeres vor. Umständlich kramte er sein Handy aus der Jeanstasche und suchte die Telefonnummer, die ihm hoffentlich den heutigen Abend versüßen würde. Nichts unter N – aber er war sich sicher, dass er ihre Nummer irgendwo gespeichert hatte. Leichte Panik stieg in ihm auf. Hatte er bei seinem letzten Wutanfall, als er schon die fertig geschriebene Kündigung in der Tasche hatte, alle Rufnummern aus der Autowerkstatt gelöscht? Nein, hier war sie ja – L wie Lehmann. Der Blutdruck sank wieder auf Normalwerte, eine unbändige Vorfreude ergriff Besitz von ihm. Die Mikrowelle fiepte ihr Garzeitende in sein Ohr, der Kronkorken löste sich mit dem charakteristischen Plopp von der Bierflasche. Andi grinste breit – heute würde er den Werkstattmeister liefern.

„Nadine, guten Abend“, flötete er ins Telefon. „Entschuldige, dass ich dich privat störe, aber ich hab was Wichtiges auf der Arbeit vergessen.“

Er hörte ihren belustigten Unterton heraus, als sie antwortete. Vor sein inneres Auge schob sich das Bild der blonden Verkaufsassistentin mit ihren großen blauen Augen, die immer so tiefgründig schauen konnten. Sie war alles andere als schlank, aber das mochte er. Ein bisschen was in der Hand musste schon sein – und bei Nadine saß es an genau den richtigen Stellen. Sie schien über die abendliche Störung nicht böse zu sein und so plauderten sie eine ganze Weile über Gott und die Welt.

„Weswegen hast du eigentlich angerufen?“, wollte sie schließlich wissen und holte Andi damit zurück ins Hier und Jetzt.

„Ich habe vergessen, den letzten Auftrag ordentlich auszubuchen – kannst du mir deine Zugriffsdaten geben, damit das System die entsprechende Just-in-time-Bestellung noch rausjagt? Nicht dass dem Meister morgen ein Ersatzteil abgeht.“

Bereitwillig entsprach Nadine seinem Wunsch und er frohlockte innerlich, weil er wusste, dass sie Zugriff auf den Rechner des seines Chefs hatte.

Verflixt, die Polizei saß ihm im Nacken. Die waren ihm verdammt schnell auf die Schliche gekommen. Jetzt musste er auf der Hut sein.

‚Klarer Kopf!‘, mahnte er sich selbst. Wenn die Bullen unten an der Haustür läuteten, hatte er immer noch drei Stockwerke Zeit zu verschwinden. Aber wohin? Ein Stockwerk rauf? Blöd, da kam er ja auch nicht weg. Einen Stock runter? Alles offen, genauso blöd. Oder zwei Stock runter und im Technikraum verschwinden?

Die keifende Stimme seiner Nachbarin riss ihn aus den Überlegungen. „Der Schröder? Na, da san S’ bei mir falsch. Der wohnt nebenan. Ja, da wo noch Meier an der Türe steht. A geh, wissen S’, de junga Leit vo heit! Seit am halberten Jahr wohnt er scho da, aber ’s Türschild hod a ollawei no ned aus’tauscht …“

Andi öffnete die Wohnungstüre einen Spaltbreit. Die beiden Polizisten standen mit dem Rücken zu ihm und Frau Lindemeier redete in voller Lautstärke auf sie ein. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Was hatte er gestern im Internet gelesen? Bis zu fünf Jahre Haft gab es auf sowas. Hochladen von kompromittierenden Bildern auf einen gehackten Rechner war kein Kavaliersdelikt – jedenfalls nicht, wenn der Geschädigte als Kinderschänder wie die berühmte Sau durchs Dorf getrieben wurde. Seine kleine Rache hatte ein ganz schönes Eigenleben entwickelt.

Lautlos presste Andi sich an den Türstock, schob sich vorbei an Klingel und Lichtschalter. Verdammt, selbst in diesem muffigen Hausflur mussten die Bullen seinen Angstschweiß riechen können. Er hechtete zum Treppenabsatz und rannte um sein Leben. Wie viel Vorsprung? Er lauschte, hörte aber nur das Klackern seiner Schuhe auf den Stufen und das Pochen seines Herzens. Tiefgarage, Sprung ins Auto, anlassen und mit quietschenden Reifen aus der Auffahrt war eins. Mist, das Polizeiauto vor dem Haus setzte sich sofort in Bewegung und folgte ihm.

Kreuzung, rechts über die rote Ampel. Der Lkw konnte gerade noch bremsen, wütendes Hupen schallte ihm nach. Und dann das Martinshorn.

Links weg, Vollgas. Im Außenspiegel konnte er das Polizeiauto sehen.

Rechts weg in die Fußgängerzone und Gas. Fußgänger und parkende Lieferfahrzeuge zwangen ihn zu raschen Ausweichmanövern, kurz nacheinander flogen beide Außenspiegel. Ein unsanfter Haken ließ das Heck des BMW kurz schliddern, aber er hatte ihn wieder im Griff.

Durch die halbe Stadt ging das Katz-und-Maus-Spiel, ohne dass es Andi gelang, seine Verfolger abzuschütteln. Als er in die Umgehungsstraße einbog, gab er dem alten BMW so richtig die Sporen. Antritt hatte er ja. Wozu war er Automechaniker, wenn er seine Karre nicht frisiert hätte?

Das Martinshorn wurde wieder lauter. Blaues Licht zuckte über die regengraue Straße. Vorn kam die lange Talbrücke. Langgezogene Linkskurve. Andi trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Ein zweites Martinshorn. Er drehte sich um, um den Abstand zu seinen Verfolgern abzuschätzen, und verfluchte sich, dass er die Insignien seines BMW-Clubs so an den Rückspiegel gehängt hatte, dass er kaum noch was sah. Immerhin waren sie nicht so nah, wie er nach der Lautstärke des Horns erwartet hätte. Sein Blick hastete zurück nach vorn auf die Straße.

Im polizeilichen Protokoll stand später, dass der entgegenkommende Wagen des flüchtenden Verdächtigen ins Schleudern geraten war, die Leitplanke rechts gestreift, dann wie ein Geschoss die Straßenbegrenzung links durchbohrt und zu einem regelrechten Segelflug über das Tal angesetzt hatte.




Karin Schweiger, Jahrgang 1958, hat schon ihr ganzes Berufsleben lang mit Texten zu tun – meist Fachliteratur. Vor ein paar Jahren packte sie der Ehrgeiz, auch mal selbst etwas Belletristisches zustande zu bringen. Ihr Debüt in dieser Sparte gab sie Ende 2022 als Co-Autorin des Landsberger Tierkrimis „Wo ist Nr. 245?“ (Liccaratur-Verlag)






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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