Tussastop

Franziska Bauer für #kkl25 „Raum“




Tussastop

 „Husten? Oja, dagegen hab ich was. Nimm aber nicht zu viel, sonst hebst du ab!“ Mit diesen Worten drückte mir Oma das Fläschchen mit dem Sirup in die Hand, und ich nahm es mit nach Hause.

Um den lästigen Reizhusten ordentlich zu dämpfen, nahm ich gleich drei Messlöffel ein. Half aber nicht. Zumindest nicht schnell genug. Wie recht Oma  mit dem Abheben hatte, merkte ich nach dem vierten Löffelchen. Und wie ich abhob!

Bei vollem Bewusstsein geriet ich nach und nach in einen seltsamen Seinszustand, wie ich ihn vormals noch nie erlebt hatte. Verwundert stellte ich fest, dass ich plötzlich an jedem Ort der Welt zugleich zu sein schien. In mir, neben mir, über mir. Ich empfand mich als allgegenwärtig. Ich konnte mich selbst von außen betrachten. Nicht wie im Spiegel mit seiner läppisch singulären Reflexion. Nein. Ich existierte in mehreren Ausgaben meiner selbst, war aber eindeutig noch immer ich und niemand sonst. Mir war klar, dass es das alles ja eigentlich gar nicht geben konnte, obwohl ich es am eigenen Leib erlebte. Seltsam unwirklich erschien mir mein Schlafzimmer, an dessen Decke ich schwebte und mir dabei zusah, wie ich gleichzeitig im Bett lag. Was ich noch sah, war die Musik, die aus dem Radiowecker quoll. Die einzelnen Töne changierten mit wechselnder Lautstärke von zartlila Kreisen zu eingedellten Ellipsen in satten Violettschattierungen, um schließlich wie Ballons, aus denen die Luft entweicht, in samtene Pünktchen aus Finsternis zu implodieren. Da ich die Musik jetzt sehen konnte, richtete sich mein Gehörsinn gleichsam nach innen, und ich vernahm, wie etwas in mir zu singen begann, leise erst, fast nicht auszunehmen, allmählich aber zu einem mächtigen Crescendo anschwellend. Es dauerte eine Weile, bis ich den Gesang zuordnen konnte. Was da sang, war das berauschende Glücksgefühl, das in mir wuchs, mich weiter entgrenzte, mich raumfüllend machte.  Der Husten war ganz aus meinem Bewusstsein getreten, nicht, dass er nicht mehr da gewesen wäre, aber auch er war aus mir herausgetreten und führte irgendwo ein von mir abgetrenntes Eigenleben. Schließlich lockte mich der Mondenschein, der durch die gläserne Balkontür hereindrang, aus dem Bett. Ich sah mir dabei zu, wie ich mir Jacke, Schal und Haube umtat, die Balkontüre öffnete und mich auf den Balkon stellte. Ich expandierte augenblicklich in die mondhelle Winternacht hinaus, weit, weit  hinauf in den gestirnten Himmel über mir, ging auf in der Schönheit der Sternenlichtes, wurde ein maßgeblicher Teil des Universums, durfte teilhaben an seiner Größe und Erhabenheit. Nichts von der üblichen Beschämung ob meiner Kleinheit und Bedeutungslosigkeit angesichts der kosmischen Weiten, wie ich sie sonst bei der Betrachtung des nächtlichen Firmamentes verspürte, nein, diesmal schien es mir, das Weltall nehme mich auf in sich, in seine würdevolle Unendlichkeit.  Mehr mit den Augen als mit den Ohren vermeinte ich schließlich, den unhörbaren Zusammenklang der Himmelskörper auf ihrem Weg durchs All wahrzunehmen, der Kosmos wurde mir zur sichtbaren Musik, deren nachtdunkles Leuchten greifbar die interstellaren Räume füllte. Ich lauschte gebannt und selbstvergessen. Die Zeit verstrich und geriet mir dabei in völlige Vergessenheit. Erst, als ich jemanden husten hörte und mir bewusst wurde, dass ich es war, die gehustet hatte, kam ich ein wenig zur Besinnung und kehrte mental auf meinen Balkon zurück. Undeutlich verspürte ich die Kälte der Winternacht, die meinem Husten wohl nicht gerade zuträglich war. Ein Rest an Pflichtbewusstsein veranlasste mich schließlich zur Rückkehr ins warme Schlafzimmer.

Wann genau und vor allem, wie ich wieder ins Bett gekommen bin, ist mir bei bestem Willen nicht mehr erinnerlich.

Am nächsten Morgen holte mich eine kurze Hustenattacke aus dem Schlaf und verdeutlichte mir, dass meine Bronchitis noch längst nicht ausgestanden war. Ich entsann mich allmählich meiner wundersamen nächtlichen Erfahrungen, die mich noch nachträglich in Erstaunen versetzten und mich bewogen, schließlich doch noch den Beipacktext des Hustensirups zu lesen:

„Tussastop wird zur Behandlung von Reizhusten und Husten verschiedenster Ursachen eingesetzt. Anwendungsempfehlung: Tussastop wird mit dem beiliegenden Messlöffel dosiert und anschließend eingenommen. Erwachsene und Jugendliche ab zwölf Jahren nehmen alle vier  bis sechs Stunden einen Messlöffel (ca. 5ml) ein. Hinweis: Bitte nehmen sie das Arzneimittel bei Selbstbehandlung nicht häufiger als viermal am Tag ein. Die Anwendungsdauer sollte nicht länger als drei bis maximal fünf Tage betragen. Wirkstoff: Dextromethorphanhydrobromid in Maltitol-Lösung.“

Wikipedia klärte mich schließlich auf, dass Dextromethorphanhydrobromid erwiesenermaßen dissoziative Rauschzustände verursachen kann, wenn man es überdosiert. Dosis facit venenum, heißt es bei Paracelsus. Was mir ja Oma ohnehin zu sagen versucht hatte.



Veröffentlicht in:
Franziska Bauer, Für Aug‘ und Ohr, gedruckt in Großebersdorf 2022, E.Weber Verlag,
ISBN 978-3-85253-733-3

Bildquelle:
https://pixabay.com/de/vectors/kind-fee-silhouette-magie-fee-5351449/(AnnaliseArt), bearbeitet (gespiegelt und mit blauem Hintergrund versehen)

Abrufbar auch von:
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Franziska Bauer, geb. 1951, Studium der Russistik und Anglistik in Wien, wohnhaft im Burgenland, pensionierte Gymnasiallehrerin, Schulbuchautorin, schreibt Lyrik, Essays und Kurzgeschichten für Zeitschriften und Anthologien, zwei Lyrikbände beim Apollon Tempel Verlag, Gewinnerin des 10. Bad Godesberger Literaturpreises

Links:
Publikationen und Lesungen nachzulesen unter:
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Rundfunkfeature Burgenland Extra:
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Einzelpublikationen:
Max Mustermann und Lieschen Müller
, heitere Verse mit Illustrationen von Elisabeth Denner, Apollon Tempel Verlag, München 2018, ISBN-13: 978-3981876840
Auf des Windes Schwingen, zweisprachiger deutsch-russischer Lyrikband
mit Originalen und Übersetzungen von Franziska Bauer und Mary Nikolska, Illustrationen von Elisabeth Denner, Apollon Tempel Verlag, München 2019,
ISBN-13: 978-3981876888
Wiedersehen mit Max und Liese, zweisprachiger deutsch-russischer Lyrikband
mit Originalen von Franziska Bauer und Übersetzungen von Mary Nikolska, Leobersdorf 2021, © 2021 Franziska Bauer, ISBN 978-3-85253-691-0

Deutsch-russischer Poesiekalender 2022 mit Originalen und Übersetzungen von Franziska Bauer und Mary Nikolska und mit Illustrationen von Anna Freudenthaler,
Leobersdorf 2021, © 2021 Franziska Bauer, ISBN 978-3-85253-698-9



Für Aug‘ und Ohr, E.Weber Verlag, ISBN 978-3-85253-733-3






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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