Raum

Ramona Zürcher für #kkl25 „Raum“




Raum

Mein Herz rast. Wo bin ich? Ich habe Schnappatmung und fasse mit meiner Hand auf die Brust, in der Hoffnung, meinen Herzschlag irgendwie wieder zu normalisieren – vergebens. Ich schaue mich hysterisch in meiner Umgebung um. Ich sehe nichts als weiss, nichts als nichts. Existiere ich überhaupt? Bin ich etwa tot? Ich taste meinen Körper ab und richte meinen Blick auf meine Füsse. Ich bin erleichtert, diese hässlichen Turnschuhe zu sehen, die mir meine Arbeitskollegin als Wichtelgeschenk untergejubelt hatte. Wahrscheinlich hatte sie diese selbst nicht tragen wollen und fand mich ein leichtes Opfer. Da ich aber nicht davon ausgehen konnte, dass sie die Schuhe genauso unvorteilhaft fand wie ich, hatte ich sie anziehen müssen und so tun, als wäre es das beste Geschenk aller Zeiten gewesen. Nun ja, das war heute Vormittag – das glaube ich zumindest. In diesem Raum gibt es keine Uhr. Jedenfalls hätte ich nicht gedacht, dass ich mich über den Anblick dieser hässlichen Schuhe jemals freuen könnte, doch jetzt tue ich es. Abgesehen von meinen Bluejeans und meinem pinken Pullover ist es das Einzige, was ich in diesem Raum sehe. 
Wie zum Teufel bin ich hierhergekommen? Vorsichtig setze ich einen Fuss vor den anderen und rufe ins Leere: «Hallo? Ist hier jemand?» Die Worte hallen aus allen möglichen Richtungen nach. Oben, unten, rechts, links – von überall erklingt meine eigene, helle Stimme. Ich beginne schneller zu gehen, beginne zu joggen und schliesslich lege ich einen Sprint hin. Es fühlt sich plötzlich anstrengend an und ich werde langsamer. Keuchend bleibe ich stehen und stütze meine Hände auf den Knien ab. Gerade will ich mir aus Gewohnheit eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht wischen, als mir auffällt, dass meine schulterlangen Haare nirgends zu sehen sind. Panisch taste ich meinen Kopf ab. Ich spüre meine Haare, aber irgendetwas ist komisch. Vorsichtig richte ich meinen Kopf nach oben, wo ich meine Haare zu Berg stehen sehe. Hä, wie geht das? Vergebens versuche ich meine Haare auf meine Schultern runter zu drücken, denn jedes Mal springen sie wieder nach oben. Ich kneife meine Augen zusammen und puste genervt Luft aus meinem Mund. Ich beginne wieder zu gehen und schaue mich erneut in meiner Umgebung um, in der Hoffnung, plötzlich etwas zu entdecken. Fehlanzeige. Alles noch immer nur weiss. Doch etwas an meinen Haaren verändert sich – sie fallen mir plötzlich ins Gesichtsfeld und verdecken mir damit die Sicht. Vergebens versuche ich sie nach hinten zu streifen, sie fallen immer wieder nach vorne. «Was ist das für ein bescheuerter Ort?» schreie ich ins Leere. Als ich einige Meter weitergelaufen bin, fallen mir die Haare behutsam auf die Schultern und sitzen wie gewohnt. Was macht das für einen Sinn? Ich bleibe einen Moment stehen und durchforste meinen Verstand. Mir kommt eine Idee. Mit meiner persönlichen Höchstgeschwindigkeit sprinte ich los in den leeren Raum, spüre wie meine Haare zuerst nach hinten fallen, dann nach oben, dann vorne über mein Gesicht und dann sitzen sie wieder normal. «Ich bin in einer verdammten Kugel eingeschlossen? Euer Ernst? Was für Psychospielchen spielt ihr mit mir?» Ich bin wütend, schmeisse mich hin und hämmere mit meinen Fäusten auf den Boden. «Halloo! Kann mich jemand hören? Ich habe das Rätsel gelüftet, ich bin in einer Kuuugel! Lasst mich hier auf der Stelle raus!» Meine Stimme überschlägt sich und tönt ziemlich krächzend. Ich seufze: «Ich wünsche mir jetzt echt von Herzen ein kühles Glas Wasser.» 
Plötzlich spüre ich etwas in meiner Hand. Ich erschrecke so stark, dass ich kreische und reflexartig loslasse, was auch immer ich gerade berührt hatte. Etwas fällt scheppernd zu Boden. Ich springe einen Satz zurück und sehe mir das Massaker an. Da liegen Glasscherben und – Wasser. Mein Herz beginnt schon wieder schneller zu pochen, denn ich finde das irgendwie sehr gruselig. «Ähm, okay. Sehr witzig, Leute. Diesen Zaubertrick würde ich auch gerne kennen.» Wie erstarrt schaue ich auf das zersplitterte Wasserglas. Funktioniert das wohl erneut? Zögerlich spreche ich: «Ich wünsche mir ein… kühles Glas Wasser.» Sofort kneife ich meine Augen zusammen und öffne ein Auge wieder langsam, um auf meine Hand zu schielen. «Wow, wie geht das?» frage ich nun verblüfft und fast schon ein wenig euphorisch. Vorsichtig nippe ich an dem Glas. Oh mein Gott, das ist das beste Wasser, welches ich jemals in meinem Leben getrunken habe. Ich lache auf und beginne mein Hirn zu durchforsten. Was könnte ich mir als nächstes wünschen? Mit hochgezogenen Mundwinkeln knabbere ich auf meiner Unterlippe. Ich hab’s. «Ich wünsche mir, dass ich am Strand bin.» Urplötzlich wird es warm im Raum. Ich ziehe meine hässlichen Schuhe aus und werfe sie in hohem Bogen hinter mich. Ich höre die Wellen rauschen und spüre, wie das Wasser sanft über meine nackten Füsse fliesst und ich langsam leicht in den weichen Sand einsinke. Das Meer weitet sich aus, wandert den runden Wänden entlang nach oben und erstreckt sich über mich. Da ich Angst habe, dass eine Wasserflut wegen einsetzender Schwerkraft über mich hereinbrechen könnte, wünsche ich mir, dass der Raum eine endlose, gerade Fläche ist – keine Kugel mehr. Ich habe zwar nicht daran geglaubt, dass dies funktionieren könnte, doch tatsächlich. Der Raum verformte sich. Das Meer erstreckt sich in die Unendlichkeit und die Sonne steht direkt über mir. Ich juble erfreut auf, befreie mich von meiner warmen Winterkleidung und schmeisse sie auf den Sand. Kichernd renne ich ins angenehm kühle Wasser und tauche kurz ab. Ich wünsche mir, mit Delfinen zu schwimmen, denn das wünsche ich mir schon mein ganzes Leben. Die Delfine springen vergnügt um mich herum. Einer stupst mich an und fordert mich liebevoll auf, mich an ihm festzuhalten. Ohne zu zögern, halte ich mich an seiner Rückenflosse fest und tauche mit ihm unter Wasser ab. Es fühlt sich wundervoll an, wie sich die Blubberblasen an meinem Körper entlang an die Wasseroberfläche bahnen. Als wir wieder auftauchen, kichert er vergnügt und ich streiche ihm sanft über den Rücken. Danach lasse ich ihn los und bedanke mich für den schönen Ausritt. Er schaut mich noch einmal zufrieden an und verschwindet dann im endlosen Meer. Ich schwimme aufs Ufer zu und steige aus dem Wasser. Ich wünsche mir ein Strandtuch herbei, worauf es eine Millisekunde später direkt vor mir im Sand liegt. Zufrieden lasse ich mich auf das Tuch nieder, lege mich darauf und schaue verträumt den Himmel empor. Ich wünsche mir, dass Musik vom Himmel ertönt, damit ich keine Kopfhörer aufsetzen muss. Es ist der beste Sound, den ich je gehört habe. Zufrieden schliesse ich meine Augen und atme tief durch. Ich kann mir wirklich alles wünschen und es wird wahr. Kurz bevor ich in die Traumwelt abdrifte, huscht ein Gedanke durch meinen Kopf. Könnte ich mich eigentlich auch aus diesem Raum raus wünschen? Ich knurre. Ich bleibe lieber in meiner friedlichen Bubble.







Ramona Zürcher wurde am 18.10.1996 in Kilchberg geboren und wuchs in Wiesendangen auf. Im Jahr 2016 zog sie mit ihrem Partner an den Zürichsee, wo sie zusammem mit zwei Katzen leben.

Sie ist gelernte Augenoptikerin mit technischer Berufsmaturität und
dipl. Ernährungscoach TEN mit eigener Praxis in Zürich. Sie möchte anderen Menschen helfen, ein gesundes und zufriedenes Leben zu führen. Durch ihre aufgeschlossene und empathische Art kommt sie schnell in Kontakt mit anderen Menschen und erfährt dadurch unzählige, faszinierende Lebensgeschichten, die sie inspirieren. Sie selbst macht sich viele Gedanken über das Leben und was unsere Aufgabe als Mensch ist. In Ihrem Roman spielen diese Fragen eine große Rolle.

Schon als Kind liebte sie es, Geschichten zu schreiben und wünschte sich eines Tages Schriftstellerin zu werden. Die Begabung, Momente bewusst zu leben, Menschen zu beobachten und schöne Bilder im Herzen zu speichern, hilft ihr dabei, diese Erlebnisse zu Papier zu bringen.

Trotz ihrer träumerischen Art hat sie immer ein Ziel vor Augen, auf das sie fokussiert hinarbeitet. Neben ihrer Liebe zum Schreiben, spielt sie in ihrer Freizeit Violine, kocht und zeichnet gerne in Farbe.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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