Roland Reber für #kkl25 „Raum“
Bin eh nur
Wenn abends sich der Vorhang
in vollen Lichte hebt,
dann bin ich ein König,
wenn ich auf den Brettern steh.
Draußen, in euren Räumen,
fühl ich mich einsam und allein.
Und ich wünsche mir nichts so sehr,
als auf der Bühne zu sein.
Wenn ich einmal geh
und komm nicht
zurück,
dann haltet mich nicht bei der Hand.
Sagt: „Na und, soll er doch gehen.
Ist eh nur ein Komödiant.“
Roland Reber, 1983 (veröffentlicht in psst … Gedichte . Gedanken . Geschichten, wtp-verlag 2022, einer multimedialen Textsammlung von und mit Roland Reber)
Videoaufzeichnung des Autors, 1991 https://www.wtpfilm.com/bin-eh-nur/
Abends
Abends,
wenn die Nebel steigen,
und Dunkelheit
sich auf die Erde legt,
wie ein Teppich
aus gefrorenem Schweigen,
will ich gehen,
will ich reisen.
Abends,
wenn die Träume nahen,
und Einsamkeit
sich auf meine Sehnsucht legt,
wie ein Raubtier,
das lauert, um zu reißen,
will ich gehen,
will ich reisen.
Reisen in ein fremdes Land,
wo Lachen ist
und Heiterkeit.
Wo man Zeit
nach Lust
und nicht nach Leid misst.
Wo der Löwe
nicht das Lamm frisst.
Wo die Flüsse
aufwärts fließen,
und statt ins Meer
in wolkenlosen Himmel
sich ergießen.
Wo einer, wenn er schwankt,
nicht fällt,
weil Hände überall
ihn halten.
Versteht ihr,
es zieht in warme Lande mich,
und nicht in diese kalten.
Ob ich glaube,
dieses Land wär existent?
Ob ich glaubte,
sowas könnte sein?
Du fragst mich,
Schalk in deinen Augen,
und ich sag Dir:
Nein.
Aber
Abends,
wenn die Nebel steigen,
und Trauer sich ins Herz mir gießt,
dann reise ich,
nur in Gedanken,
dahin,
wo ein breiter Strom
in einen wolkenlosen Himmel fließt.
Roland Reber, 1990 (veröffentlicht in psst … Gedichte . Gedanken . Geschichten, wtp-verlag 2022, einer multimedialen Textsammlung von und mit Roland Reber)
Videoaufzeichnung des Autors, 1991 https://www.wtpfilm.com/abends-wenn-die-nebel-steigen/
Hawaii
»Wegen Hawaii«, hatte ich ihnen gesagt.
Und sie hatten mich ungläubig, verstört, angeschaut.
»Wegen Hawaii«, hab ich ihnen gesagt.
Doch sie haben es nicht begriffen. Sie standen um mich herum, der Bürgermeister, die Polizei, die Krankenwagenmänner, die Passanten, sie konnten es nicht begreifen.
»Wegen Hawaii«, hab ich ihnen einfach gesagt. Als sie mich entlassen hatten, als sie mich hinausstießen in den Trubel, als sie mir meine ›Heimat‹ gaben, wie sie es nannten, als sie mir das Unrecht wiedergutzumachen versuchten, da taten sie mir unrecht.
Vor zwölf Jahren, da sagte der Richter in diesem überfüllten Saale: »Einen Menschen wie Sie muss man einsperren, für immer. Siebzehn Jahre war sie alt gewesen, unschuldig. Sie haben sie ermordet. Sie sind ein Tier. Lebenslänglich.«
Das ›lebenslänglich‹ klang hinein in den Saal, es wand sich in mein Hirn, es dröhnte, stieß nach außen. Den Schrei, den ich tun wollte, konnte ich nicht tun, er schallte in mich hinein, dumpf.
Dann haben sie mich in die Zelle gebracht. Fünf Meter auf drei Meter. Sie haben zu mir gesagt: »Hier wirst du wohl verrecken, du Mörder!«
Und dann haben sie mich allein gelassen. Tag für Tag. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Und ich bin auf und ab gegangen. Stunde um Stunde. Tag um Tag. Jahr um Jahr. Schritt für Schritt. Schritt für Schritt.
Und ich habe geschrien.
Ich habe meine Unschuld hinausgeschrien in den Raum. Ich habe gesagt: »Ich war es nicht. Ich bin unschuldig.«
Doch niemand wollte es hören.
Vielleicht konnte es niemand hören zwischen den dicken Mauern aus Beton.
Ja, und dann, dann kam der Gefängnispfarrer eines Tages. Er sagte zu mir: »Sie haben seit drei Jahren nichts gelesen. Sie haben sich nie etwas aus der Bibliothek kommen lassen. Soll ich Ihnen ein Buch schicken?« Und ich sagte: »Wenn Sie wollen. Aber – ich bin unschuldig.«
Am nächsten Tag brachten sie mir ein Buch. Es war ein Buch von der Südsee. Und während ich auf meinem Bette saß – das Licht brach sich in der Scheibe und malte das Gitter auch auf den Boden, als ob es nicht genügte, dass es am Fenster war -, und während ich las, und während ich immer wieder auf den Boden schaute, und während ich meine Zelle zum millionsten Male mit den Augen abtastete, da schlug von der Tür eine Welle über mich, eine blaue Welle mit weißer Krone. Und dort, wo die Tür war, da stand oben auf einem Hügel meine Hütte. Und da, wo ich lag, da war weißer Strand. Und da, wo früher mal das Fenster gewesen war, da war nun weit über dem Meer eine Insel. Und unter einer Palme stand ein Mädchen und winkte mir zu. Ich sagte zu mir: »Siehst du, nun bist du wahnsinnig geworden.«
Ich lebte auf meiner Insel, in meiner Hütte unter den Palmen und immer wieder sagte ich mir: »Siehst du, nun bist du wahnsinnig geworden.«
Und eines Tages kam der Pfarrer über das Meer geschwommen, setzte sich wieder irgendwo auf den Sandstrand, der früher meine Zelle war, und sagte: »Wir wollen heute einmal sprechen über das Wort ›Heimat‹.«
Und er erzählte mir von der Heimat, zu der man immer wieder treibt, dort, wo die Erinnerungen ruhen, in die Vergangenheit zurück. Und er erzählte mir im Anschluss daran von Gott und Jesus, und dass auch sie irgendwo eine Heimat hatten. Nur dass diese Heimat kein Land und keine Stadt war, sondern der Himmel. Und dieser Himmel wiederum als die Allegorie des Unendlichen.
Als er gegangen war, wieder über das Meer hinweg, als ich ihn nicht mehr erblicken konnte an meinem Strande, da sagte ich zu mir: »Du bist nicht wahnsinnig. Nein, deine Heimat ist Hawaii. Gott oder Jesus haben dir eine Heimat geschenkt. Heimat ist nicht etwa der Stadtteil oder das Haus, in dem man geboren und aufgewachsen ist. Nein, Heimat, das sind die Träume, die Wünsche, die Sehnsüchte. In jedem Menschen ist irgendwo eine Heimat. Und diese Heimat ist nie das Haus oder der Stadtteil, in dem man geboren wurde. Die Heimat ist irgendwo fern, ein Schloss, ein fernes Land, Palmen und Meer oder vielleicht ein Auto, eine Frau, ein beruflicher Aufstieg. Heimat, das ist in uns, wo wir hinstreben. All unsere Sehnsucht, all unser Verlangen sucht diese Heimat. Und meine Heimat ist Hawaii.«
Und weil Gott das Unrecht sah, das mir geschah, schenkte er mir Hawaii. Und ich lebte dort viele, viele Jahre. Ab und zu kam ein Mann. Er brachte mir Essen, Nüsse, Kokosmilch. Und dann ging er wieder und schüttelte immer den Kopf, wenn er mit seinem Kanu meinen Strand verließ.
Und dann sind sie gekommen und haben mich von meinem Strand weggeholt. Und als ich ein paar Schritte gegangen war, stand ich in einem Flur, und da stand ein Mann vor mir, den ich wiedererkannte. Es war der Gefängnisdirektor. Und er sagte: »Sie sind frei. Ein anderer kam und hat gestanden.«
Ich sagte: »Herr Direktor, hören Sie mir genau zu. Was ich hier gefunden habe, ist Hawaii. Mein Hawaii. Ich gehe nicht weg.«
Und dann haben sie mich gezwungen zu gehen.
Und als ich dann in dem großen Saal stand, es war mein alter Schulsaal, und der Bürgermeister eine Rede hielt und sagte: »Ein Sohn unserer Stadt ist unschuldig hinter Gitter gekommen«, und als dieselben Menschen, die damals im Gerichtssaal auf mich spuckten, gesagt haben: »Armer Mann«, da ergriff auch ich das Wort und sagte zu ihnen: »Ich möchte zurück. Es ist mir unrecht getan worden. Nach zwölf Jahren kam einer und nahm mir alles, meine Heimat.« Und sie verstanden nicht, was ich meinte, und ich ging.
Ich lief den ganzen Tag in der Stadt umher. Doch nirgends fand ich eine Heimat.
Da sah ich eine Toreinfahrt, in die Kinder Blumen gemalt hatten, und ich erkannte, es musste irgendein Zeichen sein. Ein Zeichen, das man für mich setzte. Kinder, unschuldige Kinderhände, sollten mir den Weg weisen.
Ich wusste, vielleicht hinter diesem Haus, hinter diesem Garten, hinter dieser Toreinfahrt, da liegt wieder mein Hawaii. Und hier wollte ich bleiben. Und ich blieb sitzen. Ich rührte mich nicht.
Dann kamen sie. Und sagten: »Armer Mann, komm mit.« Und ich sagte: »Nein, ich will hier warten, bis das Mädchen von der Palme kommt und mich holt, bis sie mir wieder Kokosmilch zu trinken gibt und ich an meinem Strand liege.«
Und dann haben sie den Bürgermeister geholt und er redete auf mich ein. Doch ich ließ mich nicht beirren.
Ich sagte: »Nein.«
Da haben sie die Polizei und den Krankenwagen geholt. Und da sah ich die Schaufel stehen.
Und ich nahm sie und schlug um mich.
Und wie der rote Horizont abends auf Hawaii, färbte sich alles um mich rot.
Und dann, dann haben sie mich überwältigt.
Und sie brachten mich zurück. Nach Hawaii.
Nach Hawaii.
Nach Hawaii.
Roland Reber, 1975 (veröffentlicht in psst … Gedichte . Gedanken . Geschichten, wtp-verlag 2022, einer multimedialen Textsammlung von und mit Roland Reber)
Audioaufzeichnung des Autors, 1975 https://www.wtpfilm.com/hawaii/
Roland Reber, (1954-2022), war Zeit seines Lebens Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, ein Rebell und Phantast.
Reber begann schon in jungen Jahren mit dem Schreiben von Gedichten, Essays und Theaterstücken. Nach der Schauspielschule Bochum spielte und schrieb und inszenierte er am Theater, bevor er sich in den 2000ern ganz dem Schreiben und der Regie von Spielfilmen, zusammen mit der Künstlergemeischaft wtp-kollektiv, widmete.
Nach einem Schlaganfall 2015 zog sich Reber immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück, blieb aber bis zu seinem letzten Atemzug kreativ mit Spielfilmproduktionen und zuletzt seinen Buchprojekten wie psst … (2022), Das Buch des Löwen (erscheint 2023) oder dem Mystery-Roman Die 7 Orte (erscheint 2024). Er starb einen Tag vor der Drucklegung seines ersten multimedialen Buches psst … Gedichte . Gedanken . Geschichten. Die Künstlergemeinschaft wtp-kollektiv besteht weiter.
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