Ein weites Feld

Juliane Eva Reichert für #kkl25 „Raum“




Ein weites Feld

Kaum ein Tag vergeht, an dem keiner am Gehweg sitzt, Pappbecher oder Schild vor sich, Hunger, Durst oder und. Das funktioniert im Sommer, nicht aber bei Minusgraden. Über eine Nacht, in der Welten durch glasige Gewässer rudern.

Vor der großen Tür in der Lehrter Straße 68 in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofes stehen sie, dicht gedrängt. Das heißt, noch vorne hin wird es eng, entlang der Stufen weitet sich der Abstand. Wer Nähe nicht muss, vermeidet sie. Die Türen öffnen pünktlich, die Mitarbeiter:innen kommen vorher, drücken sich durch den Pulk von Vereinzelten. Einer hat eine Flasche Schnaps im Inneren des Parkas und bekommt direkt Verwarnung: weder Alkohol, noch Alkoholisierte dürfen hinein. Er lacht, drückt sich die Stufen hinauf und gesellt sich unter all denen, die ihren Schnaps in den Büschen vor der Notunterkunft verstecken. Vodka Gorbatschow prägt das Bild und die Büsche funkeln in kristallnem Blau von einem Meer aus Marodem und seinem Etikett: drauf steht “Silvester in der Notunterkunft.”

Schüssel auf’m Schoß

Und warum sollten Obdachlose sich nicht auch betrinken, wenn das ohnehin beschissene Jahr in ein neuartig beschissenes Jahr wechselt? Es gibt keinen Grund. Alkoholiker gibt es zuhauf, manche trinken, um zu überleben, manche um zu sterben; diese hier lediglich zum Wärmen, Vergessen und Zeitfristen, also irgendwas dazwischen. Als die Tür von innen geöffnet wird – natürlich von innen – strömt man ein, zivilisiert, doch zerbrechlich; im Vergleich dazu ist jedes Festival ein pubertierender Affenzirkus. Wer den ganzen Tag allein auf einem Schlafsack sitzt, braucht auch am Abend keine Kuschligkeiten. Essen schon. Darum schart sich in der Küche eine Handvoll freiwilliger Silvesteratheisten, die hinreichend wenig vom Glauben abgefallen sind, ihrer Nacht einen Sinn verleihen zu wollen. Es gibt Eintopf, vegetarisch und mit Fleisch, einige Vegetarier sind unter denen, die kein Zuhause haben. Warum auch nicht, hat der soziale Abstieg mit politischer Haltung herzlich wenig zu tun. Irgendwer ordnet an, Zwiebeln und Karotten klein zu schneiden, also tut man es, Kartoffeln werden geschält und Petersilie gehackt. Die Frage, ob unter all den Gästen der Nacht ehemalige Köche dabei sind, bleibt unbeantwortet. Es gibt kein klassisches Alter, in dem man für gewöhnlich obdachlos wird, Obdachlosigkeit ist, im Blick auf die Demografie, demokratisch: alle dürfen mitmachen. Einer der auch außerhalb von Silvester Betroffenen steht am Herd, brät, würzt, finalisiert. Der Raum ist schöner als viele Kantinen, der edelstählerne Tresen der Essensausgabe besetzt mit Menschen mit Auftrag: Sinn herstellen, Zeit fristen. Bevor aber sich der Eintopf einverleibt wird, kommt das Gebet. Kaum jemand betet mit, Religion unbekannt, aber eben nicht christlich, und wenn, dann nicht jetzt. Der Augenblick zeigt, dass Jesus das ganze Jahr über die Schnauze gehalten hat, und an Kontaktaufnahmen in letzter Sekunde ist etwas Verzweifeltes festgebacken. Dennoch schmeckt gesegnetes Essen auch gut, manche sitzen am Tisch, einige am Boden, die Schüssel auf dem Schoß. Es wirkt nicht, als bräuchte man zwingend Tische im Leben, da gemütlich am Boden; das verhält sich möglicherweise anders, wenn die Wahl nicht besteht.

Der Gestank ist unmenschlich oder das menschlichste der Welt, wer weiß das schon. Es ist eine säuerliche Fäulnis, eine zu lange nicht gewaschene Jeans mal einhundert, ein zu spät geputztes Bad mal Mundgeschmack nach einer durchzechten Nacht mit Zigaretten und Bier. Fraglich ist, ob man es selbst, als Sender der Geruchsstoffe quasi, es über dauerhafte Zeit noch riecht; das Bewusstsein, dass andere es tun indes, ist da. Der eine kauert im Eck, und trotz mehrlagiger Sockenschicht ist sein schwarzer Fuß sichtbar. Doch der Zeh bewegt sich, nichts davon ist eingefroren und er scheint satt.

Von Lumpen-Läusen

Nach dem Essen geht es an die Zimmerverteilung. Es gibt nicht Raum für alle, wenn der Tag auch bewiesen hat, dass es da zu viel Raum gibt für jeden einen. Männer und Frauen gehen in getrennte Räume, na klar. Was der Privatsphäre der Frauen dienlich ist, geht der Kumpanei im Männertrakt ab, viele haben ihre Beutel mit Besitz jedweder Natur fest an sich gebunden, beklagen Klauerei und falsche Freundschaft. 

Wer ein paar letzte Zentimeter Vertrauen behalten hat, beziehungsweise hinreichend viele Meter Misstrauen gegen die Gefährten von Nacht, mitunter auch Tag, aufgebaut hat, gibt das Hab und Gut am Schalter ab. Dies besteht in der Regel aus einem Sammelsurium des Tages, einem Poesiealbum der Stadt. Pfandflaschen oft, Kleidung und Schuhe, meist verpackt in einer Thermotüte. Die werden abgegeben an die Sinnlosen, es wird gecheckt, ob Alkohol oder Drogen. Etwa ein Drittel der Menschen muss gehen, man untersucht mit Plastikhandschuhen. Das Innenleben der Beutel ist ein bisschen klebrig, es ist entweder eine Sammlung des Tages oder des Lebens. Pfand oder Fotos eben. Der Stauraum hinterm Abgabetresen stinkt nach abgestandenem Bier und nach Säure, immernoch. Aber es ist ein Schatzraum, und es wird alles aufbewahrt, was jemals gezählt hat, in Flaschen, Bildern, oder einer irgendwie gewählten Währung. Bevor man aber zwischen der Abgabe aller Persönlichkeiten und zum Dasein geladen wird, lechzt die Lauskontrolle. Wer so aussieht, als täte es wohl, sitzt auf einen Stuhl und lässt sich die Haare durchschwurbeln. Jeder würde das mögen, wäre es nicht wegen obdachloser Lausgeschichte. Haarewaschenlassen wäre das schönste der Welt, eine reine Frage des Kontext und des Haarwaschmittels; die Bewegungen sind rau, liebevoll, funktional, die Handschuhe riechen nach Läusemittel. Danach gibt es eine Wolke Nyda, dem Läusespray schlechthin. Die Gäste schämen sich, einer pisst sich ein; er erzählt danach, dass er ewig nicht mehr mit wem gesprochen hat, der die erbettelte Beute geteilt hat. Er würde das immer gemacht haben, inzwischen aber auch nicht mehr. “Solche Lumpen, diese Läuse,” lacht einer über seine Zahnlücke hinweg, und lutscht an seiner Lakritzschnecke.

Die Enge der Eitelkeit

Die Nacht naht, Neujahr damit einhergehend, auch. Verteilt wird eine Ration Wunderkerzen, eine pro Kopf, denn Wunder sind nun einmal portioniert. Die, die keinen Platz in der Unterkunft bekommen haben, gehen woandershin, Sammelstelle ist der Vodka-Busch. “Ein weites Feld”, hätte Effi Briests Vater es genannt, aber es ist ein irrsinnig beängendes Feld. Eines, in dem jeder Stein vor seiner vermeintlichen Zermalmung steht, und in dem ein jeder Tag von der nächsten Welle abhängt. Es gibt ganz offensichtlich Welten, die nicht anberaumt werden sollten. Hilfe, aber keine Hilfe. Mitleid, aber keins.

Wir gehen gemeinsam ins Freie, warten auf den Gong, die Genügsamkeit, etwas getan zu haben. Diejenigen, die einen Schlafplatz bekommen haben, gucken aus den Fenstern; einen Teufel werden sie tun, nochmal raus zu gehen, das Bett frei zu machen und die Thermotüte unbeaufsichtigt. Mitternacht in Mitte gehört denen, die sich ob ihrer eigenen Rührseligkeit freuen, selbstlos ins neue Jahr gepurzelt zu sein, obwohl es in Wahrheit bloß die Angst vor Böller in Neukölln war. Wir sind jung, schön und gesund, irgendwo steht da ein Bett für uns, obendrein noch eines bei der Mutter, immer frisch bezogen. In beiden Fällen steht vor dem Bett eine Tür zum Außen des Zimmers, einige Meter eine weitere mit Schloss, hinaus in die Welt. Wir Jungen und wir Schönen, die wir damit hadern. Wir, das sind eben bloß ein paar.

Umgeben von einem Raum, den wir nicht zu füllen wissen, weil er uns mit Möglichkeiten anspuckt, und mit einer Enge der Eitelkeit zuschnürt. Ein Leben Kofferraum, zugleich obdachlos im eigenen Gehirn.

Da ist ein Möglichkeitstaumel, dem wir erlegen sind, zu dem es eine Grenzen gibt. Wie beim Kettenkarussell, man muss eben Eintritt bezahlen, das haben entweder die Eltern gemacht oder die davor, Hitler oder das Geburtsdatum mitsamt seinem Ort. Unten, im Treppenhaus, wo die vermeintliche Hausgemeinschaft einen Quasi-Flohmarkt organisiert hat, wo wir Kleider, Essen und Pfandflaschen hinlegen, schläft indes einer. Letzte Woche wurde er angezeigt. Er hatte keinen Ausweis bei sich, wen also angezeigt? Anzeige an Unbekannt, Unmöglichkeiten, an Untage.

Unser Endzustand ist heute bereits in der Lebensmitte erreicht; für gewöhnlich öffnet sich der zeitliche Raum und geht dann, irgendwann, mit den Gebrechen, aufkommenden Verkorkstheiten und Unmöglichkeiten, wieder zu. Aber wir benutzen die anderen, ihn zu verlängern. Nehmen ihren Raum, der zu ihnen viel ist, für unsere grenzenlose Hybris. Denn Hybris kennt weder Grenzen noch Pässe.

Die Lumpen-Läuse gehen dorthin, wo’s am schönsten ist – ins Freie. Sie sind da, wo es im Kalten warm ist, in der Kirche tönt um zehn am Sonntag “Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst.”

Es ist gleich, wo Geschichten beginnen, denn sie sind rund, man kommt sowieso überall vorbei. Bei einer Runde Spazierengehen, beim Inspizieren und Kniffelspielen bei Eintopf. Oder eben Vodka




Juliane Eva Reichert, 1985 geb. in Leonberg, hat Philosophie, Empir. Kulturwissenschaft und System. Theologie in Tübingen und Ljubljana studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Berlin und schreibt dort über gastronomische Phänomene des Alltags, in Berlin und um die Welt. Sie schreibt unter anderem für den Tagesspiegel, taz, Die Welt, Mixology Magazin, Falstaff und ist Jurorin für die besten Bars im deutschsprachigen Raum. 
Publikation: Hannah Arendt – Philosophie für Einsteiger, 2017, Brill | Fink“
Foto von Anne Lomberg







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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