Refaire le monde

Ingrid Maestrati für #kkl25 „Raum“





Refaire le monde[1]

     Willi und Gustl, zwei alte Junggesellen, langjährige Freunde und seit Jahren im Ruhestand, hatten sich ihr Leben etwas langsamer eingerichtet, mit Leni vom Sozialdienst, die ein paar Stunden pro Woche nach ihnen sah. Bei regenfreien Tagen trafen sie sich im Park, auf ihrer Bank, um 10 Uhr.

     „Tja, früher war alles anders und besser“. Willi sagte dies vor sich hin, als ob er glaubte, dass eh keiner zuhört.

     „Früher wurde das Alter respektiert“, pflichtete Gustl bei, „heute nicht mehr, aber es gibt Ausnahmen: Leni mag uns.“

     Lange schwiegen sie, bevor Willi den Faden weiterspann. „Klar, das Gedächtnis lässt nach, aber wir haben keinen Alzheimer und das ist kein Grund, uns einfach abzuschieben. Früher haben die Leute miteinander geredet, heute läuft alles online, wir werden immer einsamer.“

     „Bei der Geschwindigkeit dieser Entwicklung kommen wir nicht mehr mit“, sagte Gustl, „denk an die Steuererklärung. Früher habe ich das Formular von Hand in einer halben Stunde ausgefüllt, jetzt bockt das Programm beim kleinsten Fehler und die Hotline des Finanzamts ist ständig besetzt.“

     „Wir sind im Hinterzimmer der Weltgeschichte“, sinnierte Willi, “es gibt Räume und Zwischenräume darin – von revidierten Weltbildern, schrägen Welten, Aberglaube und Hexenwahn, aber wir beide sind ganz hinten. Wir sind auslaufende Modelle.“

     War dies das Ende der Welt? Früher war es nah bei Gott, ein Schritt weiter über die Fixsterne hinaus… Willi erinnerte sich noch an seine Tätigkeit als Lehrer. „Tja, der Kosmos von Platon und seine Ideen dahinter“, sagte er leise.

     „Quatsch“, rief Gustl, „ein kleiner Raum im Kopf erschuf Welten – eine für sich, eine für die Umwelt und, damit sich das nicht alles verwurstelte, brauchte man Ideen – ganz weit weg und immer dieselben. Da wurde die Welt stabil.“

     „Die eigene kleine Welt im Kopf, eine andere im Alltagsleben und die Ideen für die Großkopfeten.“ Willi warf sich in die Brust, das hatte er früher immer getan, wenn er Vorträge hielt. „Du kannst entweder mitrennen oder ausscheren“…

     Jetzt sahen sie einem Eichhörnchen zu, das eine Nuss ausgegraben hatte und sie aufknackte. Vögel suchten in der Nähe nach Körnern, ohne Angst vor ihnen. „Wir haben uns alle aneinander gewöhnt“, sagte Gustl bedächtig und Willi stimmte zu.

     Dann kam eine Frau mit einem Hund, der an der Leine zog und anschließend ein größeres Geschäft hinter einem Busch verrichtete. Die Frau ging weiter, als sei nichts geschehen. „Hey, das muss entsorgt werden“, schrie Willi. Sie lachte nur und ging weiter.

     „Und keiner sagt was“. Gustl redete sich in Fahrt. „Wir werden zugekackt, nicht nur von Hunden, sondern auch von der Verwaltung. Hast du die Grundsteuererklärung schon abgeschickt?“

     „Natürlich nicht“, Willi lachte laut, „das Abgabedatum wurde schon zweimal verlängert. Keiner blickt durch mit diesem Verwaltungschinesisch, aber wir sind nicht die einzigen Deppen. Mein Buchhalter wollte gleich 300 Euros für das Ausfüllen des Formulars und 500 mit Ausmessen der Wohnung… der spinnt wohl. Natürlich weiß ich nicht wie groß meine Wohnung ist, sie wurde seit drei Generationen vererbt. Da hat schon lange keiner mehr nachgemessen.“

     Sie beobachteten zwei Elstern, die sich um einen Regenwurm stritten. „Wir müssen es machen wie sie“, flüsterte Gustl, „nicht immer nachgeben und nicht gleich alles an die große Glocke hängen, sondern praktische Verweigerung muss es sein. Sie werden das Enddatum noch mehrmals verschieben. Bei diesen Preisen kann man sich nicht mehr helfen lassen.“

     Lange blieben sie stumm. Jeder hing seinen Gedanken nach und die Ruhe im Park wirkte besänftigend.

      Jetzt kamen ein paar Jugendliche mit Elektrorollern vorbei. „Das gehört verboten“, Willi sagte es so laut, dass sie es hören konnten. „Bei so vielen Unfällen“.

     „Einfach“, stellte Gustl fest, „Fußgänger gehen 5 Kilometer pro Stunde und E-Roller fahren mit 25km. Sie haben eine Klingel, aber ich höre schlecht und würde sie hier im Park, wenn sie von hinten kommen, nicht bemerken“.

     „Gehen wir einen trinken“ schlug Willi vor. Sie froren. Henri, der Cafébesitzer, erwartete sie. Sie waren Stammgäste und hatten ihren speziellen Tisch. Jetzt wurden die Passanten begutachtet.

     „Uff“, lachte Willi, „siehst du die Lilly? Wie schräg sie wieder angezogen ist und mit den kurzen Haaren sieht sie aus wie gerupft.“

     „Lilly war schon immer ein aufgeregtes Huhn und das geht mit Rupfen zusammen“. Gustl war voll ihn Fahrt. „Sieh an, meine schöne Nachbarin, sie wechselt dauernd ihre Liebhaber“.

     „Nur kein Neid“, antwortete Willi, „sie kann sich das leisten“.

     Und jetzt kam ein alter Kumpel auf das Café zu. Willi und Gustl duckten sich beide, um nicht gesehen zu werden. „Der Eddy, dieser Geizkragen, will wohl wieder einen Drink spendiert haben“, sagte Gustl und beide lachten.

     Kurz vor dem Bezahlen sahen sie sich an: „Haben wir für heute genug gelästert?“, fragte Gustl, „Meine elsässische Großmutter hätte jetzt gesagt „on a refait le monde – wir haben die Welt neu erfunden, als ob sie schon anders wäre. Das ist sie aber nicht.“

     „Was wollen wir eigentlich für die Zukunft?“, fragte Willi.

     „Ein wenig mehr Menschlichkeit“, antwortete Gustl. „Wir haben unseren Beitrag für die Gesellschaft geleistet und damit ein Recht auf Anerkennung.“

     Sie sahen zum Fenster hinaus. Es hatte angefangen zu regnen. Unter den Schirmen konnte man die Gesichter der Vorbeigehenden kaum erkennen. Die Leute gingen schneller, um nachhause zu kommen.

     Willi war nachdenklich geworden. „Weißt du, wir sind nicht mehr von dieser Welt. Wir reden nicht wie die gestelzten jungen Besserwisser. Sie leben in Digitalwelten und merken gar nicht, wie sie ausgenützt werden. Und daher braucht es schräge Vögel wie wir – den Blick von Outsidern – um festzustellen, wo es lang geht.“

     „Du sprichst mir aus der Seele“. Gustl dachte ein wenig nach, bevor er weitersprach. „Früher ging es um Gleichheit – ohne Rücksicht auf den sozialen Status. Mensch sein war eine Auszeichnung, die mit Respekt verbunden war“.

     „Die Theorie war der Wirklichkeit immer voraus“, bemerkte Willi, aber es gab ein Ziel. Heute geht es nur noch um Gleichmacherei, um dumpfes Einebnen. Wir werden von Maschinen beherrscht, die nicht streiken, nie müde werden und mitleidlos funktionieren.“

     Gustl spielte mit seiner Kreditkarte. „Das alles hat unser Leben auch einfacher gemacht, aber jetzt müssen wir genau parieren, um die Algorithmen nicht durcheinanderzubringen.“

     Henry, der Cafébesitzer, beobachtete die beiden von seiner Theke aus und lachte. „Nostalgie ist ein Fluchtweg und die gute alte Zeit hat es nie gegeben“, dachte er. „Weltverbesserer denken rückwärts, benennen Mängel der Gegenwart, warten auf Besserung und dabei läuft ihnen die Zeit davon“.

     „Wir haben festgestellt, was man alles besser machen könnte, aber wer setzt dies alles um? Doch nicht etwa wir?“ rief Willi entgeistert.

     „Reg dich nicht auf“, Gustl sagte es sehr einfühlsam, „keiner nimmt uns ernst und deshalb können wir hemmungslos frei denken“.


[1] Ironische Formel für Weltverbesserer, die die Welt ändern wollen




Ingrid Maestrati, Jahrgang 1945. Mehrere Lebensphasen: Anfangs ausgedehnte Reisen als Schiffsoffizier und Auslandsaufenthalte in Myanmar und Paris über das Auswärtige Amt. Dann Studium und Arbeit als Psychologin in Paris, in der Industrie und bei Gerichten. Nach meiner Pensionierung: ein französisches Sachbuch in Arbeit und Kurzgeschichten. Mein Buch: UNTERWEGS – Erinnerungen, ISBN 978-3-03883-084-9, 2019







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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