Rückzug

Pascal Gut für #kkl25 „Raum“

Rückzug
Bierchermüsli im «Bosegg»

Heute beim Frühstück brach Trubel aus, als Herr Vogel der Frau Brunner ihr Hörnli stibitzte.
Nicht zum ersten Mal, wohlgemerkt. Sie drohte ihm bereits mit dem Suppenlöffel, als die Pflegerin einschritt. Der 83-jährige Herr Vogel, ordentlich von seiner Demenz gezeichnet, sorgt immer mal wieder für Aufregung, sei es, weil er ungebeten das Eigentum anderer Leute an sich nimmt, fremde Zimmer betritt, herum lärmt oder in Hände kneift, die nicht die seinigen sind.
Entsprechend zahlreich sind die Beschwerden von denen, in deren Oberstübchen noch Ordnung herrscht, und fähig sind, ihr Missfallen sprachlich zu artikulieren. Beides keine Selbstverständlichkeit hier im «Bosegg». Und auf Frau Brunner trifft keines von beidem zu. Deswegen geht sie direkt zu bewaffnetem Widerstand über, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Eigentlich, so die einhellige Meinung derer, die noch zu einer solchen imstande sind, gehört Vogel in die Demenzabteilung. Doch wegen chronischer Überbesetzung und einer langen Warteliste wurde er bei uns einquartiert.
Herr Vogel, also eigentlich Ruedi, als den ich ihn kenne, führte über Jahrzehnte hinweg einen Schuhladen an der Rämistrasse 12. Unzählige Paar Schuhe habe ich bei ihm über die Jahrzehnte gekauft. Unzählige Male hat er an meinen Zehenspitzen rumgedrückt und mich vor seinem geschulten Auge auf- und ab gehen lassen.
Im Gegensatz zu Rudi, den die Demenz dazu gezwungen hat, entschied ich mich aus freien Stücken, hierher ins «Bosegg» zu kommen. Für mich der logische Schritt nach dem Tod von Anni, meiner lieben Frau. Der erste Schritt, um den Rückzug aus dem Leben anzutreten.
So alleine, ganz ohne sie das bisherige Leben einfach weiterführen, das kam für mich nicht infrage. Ihr Fehlen wäre an ihre Stelle getreten, hätte mich aus jedem Raum, von jedem Stuhl aus angegrient. Hier im «Bosegg» besitzt ihr Fehlen nicht den Status dieser Allgegenwärtigkeit. Ich kann mir hier drin der Illusion hingeben, sie sei gar nicht tot, sondern zuhause, wo sie ungestört ihr Leben ohne mich weiterführt. Ich stelle mir dann vor, wie sie in ihrem Arbeitszimmer vor der Staffelei steht, in ihrem bunt gefleckten alten Überhang, und ihre Bilder malt. Wie sie sich am Computer abmüht und dabei die moderne Technik verflucht, oder wie sie einfach in einem Buch liest und die Zeit vergisst.
Während ich auf meinem Bett liege, hantiert Frau Sanchez, eine der Pflegerinnen, beschäftig in meinem Zimmer herum. Zuerst widmet sie sich ungefragt meinem Kleiderschrank. Herr Schmidts neue Unterhosen werden vermisst, obwohl seine Tochter diese doch wie vorgeschrieben, mit seinem Namen beschriftet hat. Und jetzt, wo Frau Sanchez schon mal hier ist, kann sie ja gleich noch ein wenig Ordnung in meinem Schrank bringen. Als dies zu ihrer Zufriedenheit erledigt hat, befasst sie sich mit meiner Zimmermöblierung. Sie schiebt Stühle, Tisch und Sessel so lange umher, bis einem geschmeidigen und effizienten Ablauf der allgemeinen Pflegetätigkeit ihrer Meinung nach nichts mehr im Weg steht.
Ich bedanke mich folgsam, als sie zum nächsten Krisenherd aufbricht, denn Schmidt’s Unterhosen werden noch immer vermisst.
Eine verdammte Sauerei, sei das, ruft am Nachmittag Frau Cincinettas Sohn aus, während wir Alten unser Dessert im Gemeinschaftsraum zu uns nehmen. Cincinettas Sohn pflegt seine Unzufriedenheit über die Zustände hier im «Bosegg» bei jedem Besuch lautstark zu äußern.
«Hier, was ist das?», hören wir ihn eine Pflegerin fragen, mit der er sich im Zimmer seiner Mutter befindet, die Tür sperrangelweit offen. «Das hier», mault er weiter, «Das ist ein Dekubitus!»
Die Pflegerin antwortet so leise, dass wir sie nicht verstehen können.
«Aber … aber sicher ist das ein Dekubitus. Schauen Sie doch mal richtig hin. Halt mal einen Moment still, Mutter, bitte, die Frau muss sich das jetzt mal anschauen. Sehen Sie, hier!»
«…»
«Ganz sicher nicht. Ich weiss doch, was ich hier sehe.» «…»
«Ja, ja, natürlich. Sie können nicht rund um die Uhr. Aber, die richtige Lagerung, das gehört doch wohl zum Mindesten.»
«….»
«Nein, sicher nicht. Nein, ich spreche nicht leiser, das kann ruhig jeder hören, was hier so für Zustände herrschen.» In diesem Moment schlägt die Tür zu. Seine Stimme ist noch dumpf hörbar. So verstreichen einige Minuten, bevor er und seine Mutter aus dem Zimmer kommen und sie sich zu uns an den Gruppentisch setzen. Während Frau Cincinetta in der Vanillecreme löffelt, beschäftigt er sich mit seinem Handy. Dann steht er auf, läuft ein wenig vom Tisch weg und beginnt, in sein Handy reinzureden.
«Ja, welche Möglichkeiten bieten sich mir denn sonst. Irgendwer muss doch mal was sagen.»
«…»
«Ja, ja, überall fehlts an Geld, aber das kann doch hierfür keine Entschuldigung sein. Für die Ausländer und Migranten haben Sie ja auch genug Geld, können ganze Zentren bauen für die.
Aber die Pflege meiner Mutter, ja da wirds auf einmal zu teuer!»
«…»
«Natürlich rege ich mich auf.»
Ich frage mich, ob er sich das Personal in all den Heimen mal angesehen hat. Die Ausländer, wie er sie nennt, oder ehemaligen Ausländer, sind es nämlich, welche die ganze Betreuung und Pflege überhaupt ermöglichen.
Es ist schon sonderbar, denke ich, wie hartnäckig sich diese Diskussion um die Ausländer am Leben hält und einfach nicht abklingt. Seit ich denken kann, beherrscht das Thema die Köpfe so vieler Menschen. Mal sind es die Italiener, Spanier, mal die Juden, mal die Jugos, mal die Muslime, mal die Türken, mal die Nordafrikaner.
Ausländische Fachkräfte, vermögende Steuerzahler, Billiglohnarbeiter – ja die nehmen wir. Jedenfalls ihre Arbeitskraft oder ihr Steuersubstrat – alles, solange es dem Bruttosozialprodukt wohltut.
`36 bin ich zur Welt gekommen. Zur rechten Zeit also, um noch etwas vom Schrecken des Zweiten Weltkriegs bewusst mitzuerleben. Die Aufarbeitung der Gräueltaten sollte noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen und meine ganze Generation prägen.
Meine erste große Liebe war illegal. Eine Italienerin, mysteriös und schön. Die Tochter eines Saisonniers, der seine Familie verbotenerweise mit in die Schweiz geholt hat. Mit ihnen bewohnte er ein heruntergekommenes Zimmer in einer Gastarbeiterbaracke. Es waren die Sechziger, eine Zeit, in welcher an den Grenzbahnhöfen in der Schweiz, Gastarbeiter, Männer, Frauen und Kinder schikaniert und wie Vieh behandelt wurden. Seither sind es immer wieder die gleichen Vorurteile und Stereotype, die Anwendung finden.
Kriminell, ungebildet, unfähig gegenüber den Anforderungen einer Demokratie, nicht integrierbar und so weiter. Ich und Du. Wir und Ihr. Identität braucht Abgrenzung. Kein «Ich» ohne ein «Du».
Im besten Fall ist das Gegenüber ein «Du». Nicht ein «Er», «Sie» oder im schlimmsten Fall ein «Es», ein «Die Da».
Ich habe miterlebt, wie die Welt immer weiter zusammengeschrumpft ist und wie sich alles miteinander immer enger verwoben hat. Vor Komplexität undurchschaubar gewordene Warenund Geldströme.
«Noch bevor Du diesen Morgen Dein Frühstück beendet hast, bist Du auf die halbe Welt angewiesen», hat Martin Luther King einmal gesagt.
Selbst auf mich, der ich von morgens bis abends hier im «Bosegg» sitze, trifft die Aussage zu. Ich bin angewiesen auf die Plantagenarbeiter, die täglich giftige Pestizide einatmen und das Zuckerrohr für meine Süßspeisen ernten. Auf die Kaffee- und Kakoabauern, die unter der prallen Sonne schuften. Auf die Männer und Frauen am Fließband in den stickigen Hallen, wo sie die Socken einpacken, die ich dann trage. Auf die Näherinnen in Bangladesch, welche Windeln tragen, weil ihnen jeder WC-Besuch von ihrem eh schon spärlichen Gehalt abgezogen wird. Auf die Taglöhner in den überhitzten Gewächshäusern, in den lauten Maschinenwerften und auf die Fischer auf den überfischten Ozeanen. Auf die Obst- und Gemüsepflücker, welche die Bananen für mein innig geliebtes Birchermüsli pflücken.
Undurchschaubar ist das alles geworden, und das trotz der Flut an Informationen und Bildern, die uns zur Verfügung stehen.
Damals die Bilder Biafras. Anni und ich vor dem Fernseher, auf dem der eine von vier Kanälen läuft. Das Bild ruckelt. Und doch sind wir tief erschüttert von dem, was wir da sehen.
Nie zuvor sind wir so nahe am Leiden fremder Menschen dran gewesen. Ihr Leiden hautnah.
Schonungslos und gleichzeitig voyeuristisch.
Mit diesen Bildern drang eine ganz neue Form der Hilflosigkeit in unser Leben. Zeuge sein,
ohne eingreifen zu können. Letzter Fluchtpunkt das Spendenkonto. Schnell überweisen, um das Gewissen zu stillen, und weiter zuschauen und mitleiden zu dürfen. Die Kraft der Bilder verfolgte einen damals noch bis in die Träume.
Inzwischen aber haben sie an Kraft eingebüßt, die Bilder. Sie sind so gewöhnlich geworden, wie wir abgestumpft sind.
Die Welt außerhalb ist uns sowieso viel zu nah gekommen. Also grenzen wir uns ab. Die dort sind nicht wir hier. «Wir» und «Sie». Wir kommen nicht drumherum. Für Rudi Vogel aber spielt diese Unterscheidung längst keine Rolle mehr.

«Na, schmeckts?», fragt Cincinettas Sohn in die Runde, als er wieder neben seiner Mutter
Platz nimmt. Bejahendes Murmeln als Antwort.
«Schön, schön», sagt er freundlich.
Wir sitzen da, löffeln und schlürfen Kaffee. Nach einer Weile steht er auf.
«Ja gut. Ich muss dann mal wieder, Mutter. Ich schau mal, wann ich nächstes Mal vorbeikommen kann. Irgendwann nächsten Monat sollte es schon klappen.»
Er gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
«Machs gut», zu ihr, «Auf Wiedersehen» zu uns. Er geht. Einige tauschen vielsagende Blicke aus, dann widmen sich alle wieder ihrer Kaffeetasse. Jemand blättert in einer Illustrierten, ein anderer dreht am Radioknopf. Dann gesellt sich ein Praktikant hinzu, unter seinem Arm ein altes «Mensch ärgere Dich nicht». Wer mitspielen mag, fragt er und erntet wenig Begeisterung.






Pascal Gut ist vierzig Jahre alt und arbeitet als freier Autor in Zürich. In Zürich studierte er Philosophie und Geschichte. 2014 erschient von ihm beim Emons-Verlag der Thriller «Zürcher Finsternis».







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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