Sechs Betten und fünf Geschichten

Jana Gottenströter für #kkl25 „Raum




Sechs Betten und fünf Geschichten

Auf den ersten Blick ist es bloß ein Raum.

Meterhohe Wände, graue Gardinen, lichtdurchtränkt. Auf dem Boden tummeln sich Schuhe, Haargummis, Waschlappen und Kronkorken. Die Tür zum Bad steht halb offen, knarrt mit jedem Windzug wie der Lattenrost unter mir. Draußen im Flur, Gesprächsfetzen. Ich gebe mir keine Mühe zu lauschen, lasse den Blick durch das Zimmer schweifen. Was ein Chaos. Die Deckenlampe sieht aus, als ob ihr jemand einen Fausthieb verpasst hätte. Aber sei’s drum, sie funktioniert. Und das reicht Leuten wie uns.

Denn Leute wie wir, das sind Abenteurer. Wir sind voller Tatendrang, anpassungsfähig bis in den letzten Winkel. Wir richten uns nach Wind, Wetter und Busfahrplänen. Manchmal nach der Tide, immer nach unserem Gespür.

Doch wer sind wir?

Fangen wir im Bett gegenüber an, oben. Da sitzt Lucy, den Kopf im E-Reader vergraben, mit Musik in den Ohren und Güte im Herzen. Ihr Zuhause war einst New Haven, Connecticut, jetzt sind es die Hostelzimmer dieser Welt. Seit drei Jahren ist sie unterwegs. Ob sie eines Tages zurückkehren wird? Nein, sagt sie, zu viel lastet dort auf ihren schmalen Schultern. Dagegen sei der Backpack leicht wie eine Feder. Mehr verrät sie nicht, und ihr Lächeln wischt die Fragezeichen aus meinem Gesicht.

Ein Stockwerk tiefer ertönt ein leises Schnarchen. Gabriel. Sein dunkler Haarschopf lugt unter weißen Laken hervor. Er ist so jung. Neunzehn oder zwanzig, ich weiß nicht mehr. Brasilianer durch und durch. Dieser Mensch bringt Lebensfreude in unseren Raum, durchmischt mit Tanz und Gute-Laune-Klängen. Er kennt weder Hektik noch sein nächstes Ziel. Ist ja auch egal, wenn man noch sein ganzes Leben vor sich hat. Ist ja auch egal, wenn die Sonne auf Reisen am hellsten scheint.

Ich sehe hinüber zu Hochbett Nummer drei, etwas abseits und doch Teil des Ganzen. Seine Bewohnerinnen stecken die Köpfe zusammen. Das sind Mei aus Japan und Charlize „Charlie“ aus Südafrika. Unzertrennlich nach nur wenigen Nächten hier. Verrückt, dass es mitunter ein ganzes Leben braucht, um jemandem zu vertrauen – und manchmal nur drei Runden Tequila an der Bar. Was passiert, wenn morgen jede von ihnen erneut aufbricht? Werden sie sich wiedersehen, schneller als gedacht? Oder wird das hier das erste und letzte Mal gewesen sein, ein rasches Aufeinandertreffen im Herzen von Europa? Nichts als eine Erinnerung an einen Weg, den man ein Stückchen lang zusammen gegangen ist? Kurz und schmerzlos? Es liegt an ihnen. Doch wie sie da so sitzen, kichernd, schmunzelnd, glaube ich fest an den Beginn einer ewigen Freundschaft.

Ja, und dann bin da noch ich. Mal Berlinerin, mal gar nichts. Ich weiß nicht so recht, wie ich hier gelandet bin, vertreibe mir den Sommer mit Trips durch Frankreich, Italien, Portugal, Spanien. Hauptsache unterwegs, Hauptsache raus. Ich kenne diese Welt besser als mich selbst.

Was sagt das aus?

Das Bett unter mir ist frei. Wie lange noch, das weiß hier niemand. Wir überlegen schon, wer demnächst durch die rote Stahltür stolpern wird. Vollbepackt und aus der Puste, Minimalist, irgendwas dazwischen? Ein neues Gesicht, eine neue Nationalität? Wer reist, kennt die Menschen, nicht wahr? Nun, zumindest die Schale, welche sie offenbaren.

Ihren Raum in diesem Raum.

Eine Reise ist wie ein Griff in die Lostrommel, nur ohne Nieten. Was und wer uns erwartet, ob wir feiern, ruhen, staunen – ungewiss. Und darum ist es ein Geschenk, diesen Zufluchtsort zu haben. Ein warmes Bett, umgeben von Gegenständen, die uns eine Zeit lang definieren. Umgeben von Menschen, die ticken wie wir. Spontane Einfälle. Rasches Duschen. Tequilanächte.

Das hier ist nicht bloß ein Raum.

Es ist ein Ort voller Freundschaften, Abenteuer, Schicksale. Ein Ort der Geschichten, die erzählt oder nicht erzählt werden wollen. Ein paar Stunden, Tage, Wochen lang sind wir eins. Verbunden durch eine Zimmernummer, getrennt nur durch stickige Luft, Matratzen und Bettgestelle. Ich kenne keinen Ort, der vergleichbar wäre, keinen Raum so vollbepackt mit Leben wie diesen. Es ist schön, hier zu sein.

Es ist schön, einfach mal man selbst zu sein.




Jana Gottenströter, Jahrgang 1991 und wohnhaft in der Nähe von Heidelberg, hat einen großen Teil ihrer 20er im Ausland verbracht. Das Leben dort inspirierte sie dazu, ihren ersten Roman zu schreiben. Nach dem Masterstudium (BWL mit Wirtschaftsethik) rückten Themen wie Nachhaltigkeit und zukünftige Generationen in ihren (Schreib-)Fokus. Aktuell baut sie sich neben ihrem Hauptjob ein zweites Standbein als freie Texterin auf.

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Instagram: janaschreibt_

Blog: https://zeilenwende.de/blog/

Englischsprachige Artikel: https://medium.com/@janaclarke

Interview mit Jana Gottenströter HIER







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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