Fühle dich ganz wie zu Hause

Martin A. Völker für #kkl25 „Raum“





Fühle dich ganz wie zu Hause

Es ist ziemlich einfach, herauszufinden, wer du bist, wer die Menschen sind, die um dich herum existieren, weil Menschen nicht einfach leben, sondern weil sie wohnen. Ohne Raum sind alle Dinge unvorstellbar. Alles hat seinen Ort. Der Mensch ist eingeräumt in diese Welt. Andauernd ist er damit beschäftigt, etwas wegzuräumen, auszuräumen, umzuräumen. Menschen sind Einwohner, sie nehmen Raum ein, sie beleben Räume, hinterlassen Räume, sind Räume, sind Besiedlungsgebiete. Blicke dich um, und du erkennst dich in allem, was in den Regalen steht, deine Wände schmückt, auf dem Boden liegt und von der Decke herabhängt. Deine Unordnung, aber auch deine Ordnung ist das offene Buch, in dem andere lesen können, um dich kennenzulernen. Wie und als was soll man dich kennenlernen? Welche Eigenschaften lässt du wild herumliegen, lässt du vielleicht ungenutzt? Welche Möbel-, Farb- oder Formfährten sollen andere lesen, um zu dir zu gelangen oder um dich zu übersehen? Entspricht das Durcheinander dem Chaos deiner Gedanken? Was oder wem nützt deine hotelgleiche Ordnung, wenn eine:r bloß einen Schrank zu öffnen braucht, um verschüttet zu werden? Sein ist Ein- und Aufgeräumtsein. Die Gefahr besteht darin, sich selbst und andere mit der Art und Weise des Ein- und Aufgeräumtseins zu täuschen. Weltmeisterlich können wir verstecken, wir übertünchen, ziehen Zwischendecken und Zwischenwände ein, legen neue Teppiche über Falltüren, lassen Treppen hochsteigen, die nirgendwohin führen. Wir verstecken, führen in die Irre, weil wir Angst davor haben, dass uns die uns zustehende Liebe entzogen werden könnte, wenn wir die ungeschönten Grundrisse unserer Psyche, die unrenovierten Seelenräume zeigen. Wenn du wirklich wissen willst, wer du bist, dann achte auf deine Träume. Achte nicht zu sehr auf jene Dinge, die du wahrnimmst, sondern in welcher Umgebung du sie wahrnimmst. Wie bist du im Innern eingeräumt? Welche Räume öffnen und schließen sich für dich, welche Nischen entstehen? Führe ein Traum-Raum-Tagebuch. Schlafe ein, träume, erkenne dich selbst, beobachte dich beim nächtlichen Aus-, Ein- und Umräumen. Fühle dich gut in dir, finde deinen Anmutsraum. Der Schlaf ist ein weites Meer, in dem du zu den Gründen deiner Seele hinabtauchst. Gewaltige Schiffswracks zeigen sich dir voller Liebreiz, weil Korallen sie besiedelt haben. So geht aus dem Abgestorbenen und Abgesunkenen neues und noch bunteres Leben hervor. Du gleitest die Reling entlang, und Flossen aller Arten scheinen dir zuzuwinken, sie in ihrer Behausung zu besuchen. Flackernde Lichtreste in Blau und Grün erhellen und verdunkeln deine Umgebung. Du erkennst etwas, was sich dir sofort als bislang Unerkanntes zeigt und wieder verschwindet. Schwebende Seetangstreifen formieren sich zu deinem Lieblingspullover, den du in der fünften Klasse getragen hast. Jetzt trägt ihn deine Schwester, die du nie kennenlernen durftest, weil sie noch vor ihrer Geburt starb. Du winkst ihr zu, mit der Flosse, in die sich dein Arm verwandelt hat. Sie lächelt verstohlen, bevor sie sich in die Tintenwolke eines Kraken auflöst. Manches Schiffswrack auf den Gründen deiner Seele empfindest du als bedrohlich, weil du es noch als Flugzeugträger kanntest, der die ruhigen Gewässer deiner Dreimeilenzone durchschnitt. In rostiger Düsternis ragen zerbrochene Rumpfteile in die Höhe. Aber aus dem Kampfgetümmel ist ein von Tümmlern umspieltes Stillleben geworden. Du beginnst zu verstehen, dass alles Laute und Misstönige zuletzt von majestätischer Unterwasserruhe verschluckt wird. Das lässt dich wieder ausgeglichen und tief den Sauerstoff aus Rückenflasche und Schlauch einatmen. Hoch und höher steigst du. Glitzernde Blasen in allen Formen umgeben dich, als stündest du inmitten der Milchstraße, in die du dich beim Einschlafen mit hoffnungsvollen Blicken hineingewünscht hast. Dann erreichst du die Grenze zwischen Schlafen und Wachsein, zwischen Wasser und Luft. Mitten durch dein Auge zieht sich diese Grenze. Für einen kurzen Moment verfügst du über das Glück des doppelten Blicks, der das wunderbar geheimnisvolle Leben in den Tiefen erkennt, bevor es ganz ins Dunkel zurücksinkt, und der die hinterleuchteten Nebel über dir zu durchdringen sich anschickt. Die Wiedergeburt, von der Religionen erzählen, muss dir nicht versprochen werden, du erlebst sie mit jedem neuen Morgen. Nutze dieses Geschenk, welches dir die tiefsten Tiefen und die höchsten Höhen in die Hände legen und in die Vorhöfe und Kammern deines Herzens hinabsenken. Der Tag bricht an, alte und neue Räume erwarten dich.







Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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