Nero Campanella für #kkl25 „Raum“
Konfetti
Häuser schirmen nicht nur gegen das Wetter. Sie schirmen auch gegen die Wahrheit. Das hatte der Mann begriffen, der sein Haus anzündete, um endlich in Frieden zu leben.
Jede Nacht hatte er auf dem papiernen Grund seines Lesezimmers gekauert, das keine Tische hatte, weil Tische nur kleinlichen Unternehmungen nutzten: Um-, in- und übereinander lagen, staken, stapelten sich Bücher, Hefte und Karten, lückenlos aneinandergepasst wie schlafende Ratten oder Reste in Neurotikerschränken, die obersten aufgeschlagen auf den eben noch zuoberst aufgeschlagenen – denn keins der Themen war schon zum Zuklappen und Weitergehen abgetan – Schicht um Schicht, schenkelhoch, nur einen dünnen Gang vor den Regalwänden freilassend, durch den der Mann rastlos pendelte zwischen Traktaten, Briefen und Tragödien, hier Reichenbach und Augustinus auf halbem Weg zwischen Valéry und Schlegel verglich oder verkuppelte, Gedankentrupps einander in die Arme oder in die Klingen trieb wie verfluchte Söldner, schlaflos seit Jahrhunderten, bis nur noch ein Gedanke, eine Wahrheit übrig bliebe. Oft blieb aber keiner übrig. Im schlimmsten Fall mischten sich weitere hinein und verwirrten den Konflikt noch, zogen immer fernere Ideen und Gründe heran und verknäulten sich zu wirbelnder Ungewissheit.
Nur das Wichtigste! – war oberstes Prinzip. Ein göttliches Prinzip im Grunde; denn woher wusste man, wenn man nicht alles wusste, was von allem das Wichtigste war? Der Mann wusste immerhin, dass kein ganzes Schwein in die Konserve eines Kopfes passte sozusagen, auch kein halbes. Ein wildes, zugleich wilderndes Interesse leitete ihn. Ein raffender Appetit, der wie ein Bettler sich ins Bankett des Geistes stahl und mit erdigen Händen in die Speisen langte, die dampfend und vereist, blutig oder zuckrig, in nassen Farben aus ihren Gefäßen schwollen – hier die Oper, da die Psychiatrie, Primzahlen, Dialektik, Hermetismus – er weckte den Mann nachts und führte ihn durch Wälder dunkler Welt in kristallene Paläste der Spekulation, in denen Licht und Stimmen sich endlos brachen. Für jede gut gestellte Frage schien es einen eigenen Antwortenpalast zu geben, der die Frage hinter seinen Treppen und Türmen vielmehr verbarg. Der Mann erkundete die Gänge, Säle, Spiegelkuppeln und babylonisch getürmten Bibliotheken, dass sich ihm der Blick fast bis zum Erbrechen drehte, und legte, geduldig mit 0 beginnend, lange Listen und Listen langer Listen an …
Eingekapselt in seine dumme Gegenwart wie ein Langstreckenläufer, den bei Vorstellung all der Hänge und Öden, die sich vor ihm stauen, die Kraft wie durch ein Leck verlässt, blätterte er rüstig weiter. Nichts Großes könnten wir beginnen, wenn wir an die Zukunft dächten, dachte er. Es war wie umgekehrtes Klettern: In den Abgrund, der einen trug wie der Rücken eines Drachen, schaute man auch nicht hinab, wenn man hineinkroch. Er kam von selbst hinauf und holte einen. Je tiefer er war, desto besser, desto weiter konnte man kommen, aber desto mehr erschrak man vor der eignen Winzigkeit, wie eine Ameise im Schatten einer Sohle, die herabsaust. Man kam der Welt nicht näher, ohne sich dem eigenen Ende zu nähern, ohne sich von ihr zu entfernen also, und keine Wahrheit konnte diesen Weg verkürzen, der Ziel und Gegenziel zugleich umkreiste. Wir sind Monde, dachte der Mann. Oder Sphären, die zur Mitte fühlen, mit dem Rücken zum All. Deshalb muss das Wissen sich nach innen immer, zu sich selber hin versichern, und jeder Blick nach außen, ins bodenlose Schwarze, wo das Licht auf nichts trifft, verwirrt und verängstigt – dort im großen Schwindel, der die Planetenmurmeln dreht.
An einem Glückstag wurde ihm das klar. Er blickte in den Abgrund seiner Zukunft und genas. Er durfte ihre Klinge küssen. Etwas riss ihn weit genug aus sich hinauf, um ihn seine Kleinheit erkennen zu lassen. Er begriff, dass das Insekt seines Lebens die von ihm erahnte Welt niemals durchqueren könnte. Seine engen Projektionen auf die weite Welt waren um eben so viel größer als er selbst, sein Körper, seine Zeit. Die Linse war im selben Maß geringer als ihr Bild wie das Bild geringer als die Wirklichkeit. Der Blick war die Potenz des Auges und die Wahrheit die Potenz des Blicks. Er selbst war nur ein Medium, ein Stück Physik für all die weiten Bilder und Berechnungen – ein Zettel, der sich selbst liest und deshalb für bedeutender hält als Papier; eine Magnetschicht, die von ihren Daten weiß, und sich mit ihrem Sinn verwechselt; die Luft eines Gesprächs, die glaubt, sie hätte eine Stimme, weil sie Wörter trägt. Der Mensch ist ein Zeichen, das an seine Bedeutung glaubt, in den Sand gezogen, einen kurzen Regen lang; ein Zellgespinst, staubleicht durchs Prisma seines eignen Blicks getragen: durch weltenhohe Kathedralen, Bögen, flirrend unberührbar …
– Man darf sich nicht mit seiner Vorstellung verwechseln!, pochte der Mann, zunehmend wirr, wie ich fand: Die Wahrheit ist kein Satz, kein Bild und keine Formel. Sie ist ein Feuer, dem nichts standhält! Die Leiter, die zerfällt, bevor man sie besteigt. Ein Pfeil ins Nichts, vom Zufall abgeschnellt. Ein Daseinsnegativ. Ein Schwarzes Loch, dem unser Denken sich nur nähert bis zu jenem Zitterpunkt, an dem es sich zu widerlegen anfängt!
Kurz: Es gab nichts für ihn zu tun. Aufgaben waren Dummheit, Aufgeben war Weisheit. Sich dem Nichts befreunden, darum ging es! Nicht das Vertraute suchen, die Höhle und das Nest, sondern das Ferne, Fremde, Kalte spüren und halten, ertragen und erinnern, bis noch das letzte Nest, die Haut, der Schädel aufreißt und letztendlich – Welt wird!
Der Mann, nach dieser Offenbarung, schloss die Bücher nicht, die er wie Mitgefangene, wie Mitinsassen schon verachtete. Zum letzten Mal roch er Papier und Druck. Und dann roch alles nach Benzin. Und dann nach Brand und Rauch und bald nach Asche. Draußen, vor dem ächzenden Gemäuer, trockneten im Wind die überhitzten Augen und schwarze Flocken bestäubten seinen Frieden. –
Er hustete, ich goss ihm nach, ohne zu unterbrechen.
– Alle Ordnungen sind Gehäuse gegen die Wahrheit, sagt er mir. Alle Zimmer, Wände, Fenster: Welt-Fluchten, Welt-Verstecke! Maulwurfssiege. Alle in den Welt-Raum gebauten und gedachten Menschen-Räume – nur Atemwolken. Luftblasen aus Tauchermündern.
Ich wusste nicht, was mein Nicken bedeutete, aber ich nickte.
– Wir spinnen feine Unterwelten in die unendliche Überwelt, flötete der obdachlose Mann, jetzt heiter wie ein Hirtenjunge. Unser Kosmos ist eine Miniatur. Ein Mobile, das über einem Kinderbettchen dreht.
Ich murmelte etwas im Sinne mangelhafter Hirne.
– Nein, widersprach er gleich. Das Insekt hat keine mangelhaften Beine. Es lebt nur nicht so lang, um alles zu erreichen.
– Sicher, murmelte ich: Wir verdrängen die Zeit etc.
Da blies er wie ein Wal aus seinem Liegestuhl den Cognac heraus, als hätte ich einen herrlichen Witz platziert.
– Immer! Und gerade wenn wir sagen, dass wir sie verdrängen, und mit Zigarre klug zu klugen Sätzen nicken wie Götter, die nichts angeht – gerade dann!
Er meinte mich. Ich hörte auf zu nicken.
– Das ist unsere Methode: die Dinge in Wörter packen! Sie in Käfige zäunen. Einen Zoo anlegen mit allen Monstren des Realen, nicht um sie zu studieren – sondern damit man seinen Kindern die wilden Tiere zeigen und dabei ein Eis essen kann!
In diesem Sinn ging es weiter. Er wiederholte sich. Ich schaute mehrmals höflich nach der Uhr.
– Gewissheit, Selbstgenuss, Vertrauen, Hoffnung, Glück – Konfetti im Feuersturm! Kurz und bunt!
Immerhin bunt, dachte ich und bedankte mich herzlich. Dabei hatte ich ihn auf eine Zigarre eingeladen. Winters durfte er unsere Gartenlaube bewohnen, was er angeblich nur sehr ungern tat: Das ist die Wahrheit, bibberte er dann, wohl halb dement, aus seinem Schlafsack, wenn ich die Vögel fütterte, jetzt spüre ich die Welt ganz nah! Heute war die Luft lauwarm, wie Blut. Frech klemmte er den Cognac unter einen Arm und tappte grußlos die Vordertreppe hinunter.
– Kein Licht bitte! rief er mir dringlich zu.
Kurz schien es mir sogar, als meinte er es ernst, all das. Ich schaute seufzend in die Sterne, die wohl Satelliten waren, sah ihn nicht mehr und verriegelte die Tür.
– Na, war es interessant? kam Gretchens Stimme vom Diwan.
– Für ihn ja, fasste ich zusammen. Er hat heute zum ersten Mal Courvoisier getrunken.

Nero Campanella wurde 1977 in Saarbrücken geboren. Er hat Mathematik, Theologie und Literatur studiert und veröffentlicht seit vielen Jahren Lyrik und Prosa unter diversen Pseudonymen in Zeitschriften und Zeitungen, zuletzt in „Streckenläufer“, „Perspektive“ und im baden-württembergischen „lit.cast“. 2019 erhielt er das Arbeitsstipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, 2021 hielt er sich als Stipendiat des Saarlandes auf Schloss Wiepersdorf auf. Sein erster Roman „Wie ich unsterblich wurde“ wird von der Münchener Literaturagentur Scripta vertreten. Nero Campanella lebt in Tübingen.
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