Jan Hoflehner für #kkl25 „Raum“
Von groß und klein
Vor fünfzig Jahren hatte der durchschnittliche Computer die Größe einer Bierkiste. Prototypen davon lasen Lochkarten und besaßen ein Gedächtnis für etwa 20 Wörter. Z eins, zwei und drei, ENIAC, Geräte von IBM, erste Mikroprozessoren Marke Intel sind nur einige Meilensteine der dichten Geschichte dieses Wegbereiters der Moderne. Ein Integrierter Schaltkreis aus dem Jahre 1971 zog seine Rechenleistung aus der für damalige Zeit hohen Zahl von 8000 Transistoren. 47 Jahre später sind auf dem Ryzen Threadripper von AMD 9.6 Milliarden Stück der simplen Halbleiter – Bausteine verschaltet.
Friedrich streckt die knorrige Hand aus. Da muss man ja was machen können. Ein periodisches, dünnes Pfeifen hat er bereits abgestellt, den Alarm gänzlich zu quittieren verlangt aber die Lösung des Problems. Eine blinkende Signallampe erinnert hartnäckig, dass er das noch nicht bewerkstelligt hat. Mit flinken Fingern macht er sich soeben an der Abdeckung zu schaffen, die die Ursache unter sich verbirgt. Da dürfte etwas durchgebrannt sein. Friedrich schwitzt in seinem mehrlagigen Schutzanzug. Dessen Wärmeabfuhr funktioniert, die persönliche Ausrüstung weißt bestimmt keine Mängel auf, aber zu gegebenen Anlässen steigt die Körpertemperatur trotzdem an. Die kleine Klemme sitzt fest. Es erfordert Fingerspitzengefühl und etwas Kraft sie überhaupt dazu zu bringen, sich zu rühren. Aber kurz bevor der Mechanismus die Abdeckung dann frei gibt, schnappt sie wieder zu und verschließt den Deckel fest. Ihm entfährt ein Fluch: „Verdammtes Schloss, jetzt sei doch nicht so verdammt bockig!“ Das ein so primitives Teil, dermaßen große Umstände machen kann, passiert auch nur in der Hektik. „Hast du’s schon?“, eine raue Stimme antwortet Friedrichs Ausruf. „Wenn die Steuerung nicht bald zugänglich ist, hohl ich eine Brechstange.“ Ein schlanker Körper schwebt in seine Richtung. Petja steckt in dem gleichen schwarz-grünen, engen Vitalanzug, den sie alle Mitglieder der Crew zu Dienstzeiten tragen müssen. In seiner ausgestreckten Hand hält er ein filigranes Stück Plastik. Der Chip besteht eigentlich aus faserverstärktem Verbundstoff mit elektrotechnischen Bauelementen in Nanometer Größenordnung. Der universal programmierbare Prozessor hat Routinen gespeichert, die ihn zum passenden Ersatzteil für die Aufgabe machen. Ein System zur Überwachung des Zustands aller anderen Systeme gab exakt an, was, wo, wann die Fehlerindikation ausgelöst hat. Wenn sich nur bloß die Krux mit der Mechanik rasch beheben ließe.
Friedrich stöhnt. Ein Schweißfilm sammelt sich an den Härchen seiner rechten Braue, formt einen Tropfen und als er rasch den Kopf wendet, perlt die salzige Flüssigkeit ab, taumelt orientierungslos durch den Raum. Welch ein Glück, dass es Kollegen gibt; so denkt er, denkt, wer im Notfall Hilfe bekommt. Endlich weicht der Widerstand der Abdeckung, sie klappt nach hinten auf. Hinter einer weiteren Klappe sitzen Platinen und Schalter und Lämpchen, die für die Steuerung der Schleusentür, zur Zustandsanzeige und noch ein paar anderer Aufgaben zuständig sind. Sie wirken so unscheinbar und sind gleichzeitig detailliert, so hübsch bunt, dass man sie wahrscheinlich stundenlang betrachten könnte, ohne das Interesse zu verlieren. Dazu bleibt jetzt keine Zeit. Eine Serie an Ziffern und Buchstaben weisen jede Komponente eindeutig aus, der mindestens zehnstellige Code ist kaum leserlich in ihre Oberfläche gestanzt. Petja landet sanft neben der verschlossenen Schleusentür und hält das Ersatzteil für Friedrich griffbereit.
„Beeil dich lieber, in fünf Minuten startet der Computer einen Testlauf. Wenn dann die Lebenserhaltung falsche Signale weiterleitet und die Kontaktmelder zufällig eine Abfrage beantworten,“ „ja, ja, ich weiß, Peterchen,“ „was sie eigentlich nicht sollten, dann geht uns hier das Auge auf und die paar Tropfen Schweiß gefrieren zu Eis so rasch wie dein Blut und die Flüssigkeit hinter deiner Pupille.“ Petja lacht, es macht leise klack. Friedrich hält die defekte Platine in die Höhe. „Tausende Schaltkreise auf einem Stück Plastik, so groß wie mein Fingernagel, und es genügt, dass ein einziger davon durchbrennt.“ „Genügt, zu was?“
Sie tauschen die Stücke aus – verbraucht gegen einsatzbereit – das Blinken des Signallämpchens erstirbt. Friedrich verstaut wieder alles an seinem Platz und schließt den Deckel. „Der Computer meldet einwandfreie Funktion der verbundenen Systeme. Gute Arbeit. Du hast gänzlich im Alleingang verhindert, dass die Bude vom Vakuum umgekrempelt wird. Komm, pack dein Köfferchen wieder, wir schicken ihn auf einen Probelauf.“ Petja segelt davon. Die Luke am anderen Ende des Moduls schließt sich hinter dem schmalen Russen. Er hat gesagt, er wolle eine Prüfung durchführen, das bedeutet, Funktionsprüfung, das bedeutet, Entlüftung des betroffenen Bereichs. Aber Mannschaft oder lose Ausrüstung wird er nicht den ungemütlichen Umständen des Weltalls aussetzen; garantiert. Geht das überhaupt?
Einige Minuten verstreichen. Friedrich genießt den Moment der Ruhe. Sieben Personen beherbergt das ungewöhnliche Quartier für jede Mission. Auf Tausend Kubikmetern leben und arbeiten sie nebeneinander. Von der Oberfläche der Erde aus betrachtet, gleicht die Station einem unscheinbaren Stern, oder man könnte sie für ein Körnchen Staub auf der Linse des Teleskops halten, dass beim letzten Putzen picken geblieben ist. Ihm hier ist sie in wenigen Wochen zu einem zweiten Zuhause geworden, und für ein Körnchen Staub, hat er angemessen viel Platz. Wie viele Schaltkreise wohl auf einen Passagier kommen?
Umgekehrt ruht der Planet im rahmenlosen Nichts. Er ist gewaltig. Von jeder Perspektive aus, die sie über den Tag verteilt einnehmen, sieht man einen neuen Abschnitt strahlender Schönheit. Wenn du nur etwas mehr Zeit hättest jeden Tag, einfach nur die Kontraste und die reinen Farben, das Grün, das Gelb, das satte Blau in dich aufzusaugen, denkt er. Die Antwort auf Fragen, die sich erst stellen werden, liegen dort aufgebreitet und sie sind in jedem Moment so kurz davor, aus der Reichweite deiner Erkenntnis zu schwinden. Wenn dann der Schatten heraufzieht und sich über das herausragendste Kunstwerk legt, dass die Menschen je zu Gesicht bekommen werden, lässt diese Transformation einen rätseln: wie kann der Tritt eines Stiefels oder das Wort aus einem Mund, ein flüchtiger Gedanke der Welt auch nur den Bruchteil ihrer Perfektion abringen? Friedrich schließt die Augen und reist zu seinen Liebsten.
Ein ohrenbetäubender Krach alarmiert die Nachbarschaft. Durchs offene Fenster weht feucht heiße Sommerluft herein. Maria steht verzagt und wütend vor den Scherben ihrer halben Kücheneinrichtung. Ein Hund beginnt zu kläffen. Jemand pfeift. Einer ihrer Mitbewohner hat den Schrank über der Spüle bis weit über Kapazität mit Geschirr beladen. Teller und Schüsseln liegen am Boden verstreut und dabei wollte sie sich nur Müsli herrichten. Stattdessen würzen ihr Splitter von Glas und Porzellan die frisch geschnittene Obsteinlage. Der Köter draußen im Hof wimmert nur mehr. Maria schmeißt das Kastl zu. Sie flucht und lauscht in schuldiger Befriedigung der darauffolgenden Stille. Javier protestiert hinter verschlossener Zimmertür. Um Besen und Schaufel aus der – nicht weniger zugemüllten – Gerümpelkammer herauszusuchen, läuft Maria aus dem Zimmer.
Wenn das Leben einer Fliege an einem schlechten Tag sechs Stunden oder etwas mehr umfasst; in diesem dichten Wohnblock in diesem x – beliebigen Ballungsraum irgendwo an der Küste Lateinamerikas könnte das Tier in dieser Zeit durch die zum Innenhof gewandten Fenster jedes einzelne Appartement besuchen. Wenn dort nicht eine trotz der schwülen Hitze wache Hand sie an der Wand zerquetscht, würde die Fliege ein Krumen oder zwei vertilgen und wie die zigtausend ihrer Artgenossen kopulieren, Eier legen und sterben.
Javier liegt auf seinem Bett und blinzelt misstrauisch zu dem kleinen Eindringling. Maria streunt umher, beschnüffelt herumliegende Kleidung, prüft mit spitzem Finger die oberste Regalablage. Sie rümpft hörbar ihre Nase, dabei ist die Staubschicht gar nicht mal dick. „Wir haben Motten,“ verkündet sie halblaut. Vor dem offenen Fenster bellt ein Hund, ein anderer diesmal. „Der Schrank ist befallen. Wir müssen außerdem neues Geschirr besorgen. Zumindest ein paar Teller.“ Er grummelt nur gedämpft zur Antwort. Gedehnte Sekunden verstreichen, in denen Schweigen herrscht und durch die dicke Luft einzig das Summen der Insekten an ihr Ohr dringt. Maria droht, hypnotisiert vom Geräusch ihres eigenen Atems, im Stehen einzuschlafen; es kostet sie Überwindung, die Bücher im Regal zu lassen und nicht eines davon gepfeffert an die Wand zu schleudern. Sie nimmt das Pochen ihres Herzens wahr und den säuerlichen Geruch von Schweiß.
Im nächsten Moment ist Maria aufs Bett gehüpft; Javier stöhnt und zieht sie an sich und sie legt den Kopf auf seine vertraute Brust. Er streichelt ihre nackte Schulter und fühlt jede Anspannung aus dem zierlichen Körper weichen. Maria vergisst die Motten und die Scherben und wann sie das letzte Mal eine Sorge geplagt hat. In beflügelten Träumen reist Maria in eine Zukunft, in der Müsli auf Bäumen wächst und Motten ihre Kleider waschen, anstatt sie aufzufressen.
Jan Hoflehner
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