Das Problem

André Hénocque für #kkl25 „Raum“




Das Problem

Harald stand vor seinem Schreibtisch im kleinen Raum, den ihm die Universität

zur Verfügung stellte. Der helle Kreis des Lampenlichts schien auf die letzte Seite des Artikels, den er gerade gelesen hatte. Die wissenschaftliche Publikation war allgemein wegen ihrer Qualität bekannt. Daher gab es kaum Zweifel am Wahrheitsgehalt oder an den zugrunde liegenden Forschungen der Beiträge. Dieses Mal aber konnte der Professor seine Bedenken nicht ausräumen, wobei seine Kollegen sowie internationale Fachleute und Institutionen die neuesten Erkenntnisse feierten.

Schon in der Antike hatten sich Mathematiker, Physiker und Philosophen mit einigen Aspekten des Problems beschäftigt. Natürlich konnten sie die Tragweite des Experiments, wie es heute beschrieben wurde, nicht erkennen. Wie ist es möglich, dass sich Sachen gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten befinden können? In der katholischen Kirche wird die Gabe der Bilokation für einige heilige Personen angenommen. Aber hier geht es um Superposition. Nachweislich. Wenn das wahr ist, dachte Harald, dann würden sich viele Möglichkeiten ergeben, sollte man nicht nur Elektronen, sondern größere Elemente auf die gleiche Art behandeln können.

Harald wischte sich über die Augen. Wir befinden uns in einem Raum-Zeit-Kontinuum. Raum und Zeit sind untrennbar miteinander verbunden. Es gibt nur eine Wirklichkeit. Oder doch mehrere? Bei Platons Höhlengleichnis gibt es auch das Leben außerhalb und das Dasein der Schatten innerhalb der Höhle. Je nachdem aus welchem Blickwinkel man es betrachtet, hat man unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit und Wirklichkeit. Dieses philosophische Problem wurde jedoch schon vor langer Zeit erklärt und birgt kein Geheimnis. In der Mathematik und Physik gibt es viele Rätsel. Die meisten wurden gelöst, manchmal nach Jahrhunderten und doch bleiben manche unergründlich oder erweisen sich als Paradoxon.

Wie kann ich die Wahrheit erkennen? Wenn ich hier in meinem Büro stehe bin ich eindeutig positioniert. Meine Handlungen werden in einem Raum, in einer Zeit getätigt. Harald ging zum Schrank um seinem Mantel zu holen. Er hielt kurz an und schaute auf sein Bild im Spiegel der Schranktür. Du siehst müde aus, dachte er. Du betrachtest dich und den Raum hinter dir. Alles ist eine Einheit, alles ist gleich. Er hob den rechten Arm, so als wolle er zum Abschied grüßen. Sein Spiegelbild hob den linken.      




André Hénocque, Rentner, früher Industriekaufmann

Publiziert :  2021 –  1 Kurzgeschichte

                                1 Gedicht

                    2022    6 Kurzgeschichten

                                1 Haiku 






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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