Der Turmkammermann

Falk Andreas Funke für #kkl25 „Raum“




Der Turmkammermann

Als man die Tür endlich aufbrach, weil sich das rostige Schloss aus jahrhundertelangem Trotz nicht mehr bewegen ließ, waren die Handwerker die ersten Menschen, die seit undenklichen Zeiten die Turmkammer betraten. Später, als der Landeskonservator die Männer dazu befragte, erfuhr er, dass durch den aufgewirbelten Staub zunächst nichts zu sehen war. Damit habe man rechnen müssen. Alle trugen daher einen Mundschutz sowie entsprechende Brillen. So steht es im Bericht. Nicht die vernebelte Raumluft war daher das Überraschende, sondern der Geruch. Ein Arbeiter verglich es mit einer Erfahrung aus seiner Pfadfinderzeit. Wenn mehrere Leute die Nacht in einem verschlossenen Zelt verbracht hätten: abgestanden, verbraucht, eher unangenehm, aber auch auf eine gewisse Weise vertraut. Gemeinschaftsmief war der Ausdruck, den er verwandte. Aber, um sich zu wundern, blieb keine Zeit. Jemand, den man zunächst nicht sehen konnte, fing im vernebelten Raum an zu schreien. Nein, eher zu krächzen oder als würde die Person, die zu schreien versucht, nur ein Krächzen herausbekommen. Und dann – so steht es im Protokoll – hat sich eine Gestalt vom Boden erhoben. Langsam, unsicher, wie nach einem langen Krankenlager, wenn die Muskeln kaum noch wissen, was sie zu tun haben, und auch zu schwach sind, um Bewegungen richtig auszuführen. Ächzend und schwankend gelang es dem Mann aber doch, sich aufzurichten. Dass es ein Mann war, konnte man sehen, als sich der Staub zu legen begann. Nicht sehr groß war er, dürr – ja geradezu ausgemergelt – und von einer Behaarung überwuchert, die den Menschen von oben bis unten eingesponnen hatte. Einer der Befragten sagte (Zitat): Wie ein Hippie, der seit Woodstock keinen Frisör mehr gesehen hat (Zitatende). Das gekrächzte Geschrei war zunächst wohl der Überraschung geschuldet, dann aber klang es nach Angst, ja nach purer Panik. Wie im Horrorfilm kurz bevor jemand abgestochen wird (Zitat, ein Arbeiter). Wilde, unartikulierte Laute, nichts Verständliches, außer einem Wort, auf das sich die Männer keinen Reim machen konnten. Aber man war ohnehin viel zu überrascht von dem, was sich seit dem Aufbrechen der Tür ereignete, um sich auf irgendetwas einen Reim zu machen. Die Männer waren unterschiedlicher Meinung, welches Wort sie gehört haben wollten. Einer meinte Klavier verstanden zu haben, ein anderer widersprach und sagte, es habe sich um Quartier gehandelt. Die übrigen konnten nichts Eindeutiges bestätigen. Kurz darauf brach der Mann ohnmächtig zusammen, ohne sich weiter artikuliert zu haben. Die Arbeiter haben ihm übrigens den Spitznamen Catweazle gegeben, angelehnt an die Filmfigur, eine Bezeichnung, die zunächst von der Lokalpresse aufgegriffen wurde und die sich (leider) inzwischen im öffentlichen Diskurs durchzusetzen beginnt. Das vorläufige anthropologisch-medizinische Gutachten ist bemerkenswert. Der Gutachter beginnt einleitend mit der Bemerkung, einen derartigen Fall bisher noch nicht beschrieben zu haben. Das Alter der männlichen Person wird auf circa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre geschätzt, allerdings lasse der Allgemeinzustand darauf schließen, der gesamte Organismus habe sich seit langer Zeit in einem Ruhezustand befunden, ähnlich dem Winterschlaf bestimmter Säugetierarten. Dies wiederum habe dazu geführt, dass sich lebenswichtige Organe soweit zurückentwickelt hätten, um nur noch eine Art Notbetrieb des Körpers aufrecht erhalten zu können. Die plötzliche Beendigung des Langzeitruhezustandes habe daher einen Kollaps verursacht, worauf man die Person in ein künstliches Koma versetzt habe. In diesem Zustand und bei weiterer Stabilisierung des Gesamtzustandes und Nährstoffzufuhr sei davon auszugehen, dass es allmählich zu einer Wiederaufnahme der organischen Vollfunktionen kommen werde. Wann man das künstliche Koma beenden könne, sei zurzeit noch nicht abzuschätzen. So das medizinische Gutachten. Das Institut für Landesbodenkunde und Archäologie hat die Kleidung des Turmkammermannes (offizielle Bezeichnung) untersucht und auch die vor Ort gefundenen Artefakte: Strohlager, Rupfendecken, Steingutschüssel, Tonkrug und Kienspäne. Demnach entsprechen alle textilen und nichttextilen Untersuchungsobjekte Gebrauchsgegenständen aus dem mittleren Drittel des siebzehnten Jahrhunderts. Und zwar in einem bemerkenswert guten Erhaltungszustand. Der Inhalt der Schüssel konnte als eingetrocknetes Habermus identifiziert werden, eine typische Getreidespeise aus dieser Zeit.  Das Analyseergebnis der Radiokarbonuntersuchung steht noch aus, wird aber vom Institut wie es heißt: mit Spannung erwartet. Zudem hat man den hauseigenen Historiker um eine Vorabeinschätzung gebeten. Dieser hat die bisher bekannten Fakten bewertet. Er bittet um Vertraulichkeit, weshalb dieser Bericht einstweilen unter Verschluss bleiben wird. Die Pressestelle wurde informiert.

Der Ausruf, den einer der Arbeiter als das Wort Quartier verstanden haben will, (so der Geschichtswissenschaftler) wurde in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges dazu verwandt, um sich ohne weitere Kampfhandlungen dem Feind zu ergeben. Historisch verbrieft ist eine Belagerung der Stadt durch die Schweden im Jahr 1648 – wenige Monate vor dem Westfälischen Frieden. Mehrere Versuche, die Festungswerke zu überwinden, schlugen jedoch fehl. Der Historiker hat nun die Hypothese aufgestellt, der Turmkammermann habe sich im Zuge der damaligen Kampfhandlungen in Sicherheit bringen wollen und als Versteck das Gelass gewählt, in dem er vor kurzem aufgefunden wurde. Es ist zu vermuten, dass er einer der Türmer war und einen Schlüssel besaß. Wie es möglich sein konnte, dass er auf seinem Lager praktisch 350 Jahre im Dauerschlafzustand überlebte, sei eine Frage der Mediziner. Für einen Historiker aber ein Glücksfall ohne Beispiel in der Forschungsgeschichte. Das plötzliche Aufbrechen der Kammertür im Zuge der aktuellen Gebäudesanierung, der dadurch entstandene Lärm und Staub, die maskierten Handwerker, lassen aus Sicht des Historikers den Schluss zu, dass der Aufgefundene aus seiner Paralyse erwacht sei und sich im Glauben befunden haben musste, dem (damaligen) Feind sei es gelungen, den Turm einzunehmen und nun gehe es ihm an den Kragen. Der Ausruf Quartier, der ja seinerzeit wie oben erwähnt als Losungswort diente, um sich zu ergeben, sei also ein Selbstrettungsversuch gewesen, um sich der Gnade des Feindes zu überantworten und vielleicht mit dem Leben davonzukommen.

Der Oberbürgermeister hat eine Expertenrunde einberufen, die in nichtöffentlicher Sitzung bereits einmal getagt hat. Es wurde zunächst die Frage erörtert, welche Maßnahmen zu treffen sind, wenn der Turmkammermann das Bewusstsein wiedererlangen sollte. Ein Mitglied der Runde, leitender Klinikarzt für Psychiatrie und Neurologie, gab zu bedenken, ein Fall wie dieser, sei in der Fachwelt noch unbekannt. Man könne jetzt noch nicht sagen, ob es zu Schädigungen des Gehirns gekommen sei. Das bleibe abzuwarten. Zitat: Es ist aber auch bei günstigem Verlauf damit zu rechnen, dass ein wiedererlangtes Bewusstsein, welches zuletzt im siebzehnten Jahrhundert mit der Außenwelt interagiert hat, in der Umgebung einer Intensivstation der Gegenwart in schwere Irritationen gerät. Zitatende. Um Anpassungsstörungen zu vermindern, wurde ein Vorschlag des Kulturbeauftragten der Stadt protokolliert. Wenn es möglich wäre, sollte der Patient mit einem Betreuungsteam und den erforderlichen Gerätschaften in eine vertraute Umgebung verlegt werden. Dabei kann eine Kirche in Betracht gezogen werden oder – wenn es die Hausordnung zulässt – der alte Ratssaal. Und das Kammerensemble „Glückliche Tage“, das auf die Vokal- und Instrumentalmusik der Renaissance sowie des Frühbarocks spezialisiert ist, wäre bestimmt gerne dazu breit, den ersten Augenaufschlag mit einer fröhlichen Weise aus seinem Repertoire zu begleiten.




Falk Andreas Funke, Autor aus Wuppertal, Jahrgang 1965. Brotberuflich seit 1982 in der Arbeitsverwaltung tätig. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Seit 2001 Mitarbeiter des Satiremagazins ITALIEN, Wuppertal.

Bücher: Tier und Tor, 2004; Ballsaal für die Seele, 2010 (Gedichte, Turmhutverlag, Mellrichstadt), Krause, der Tod und das Irre Lachen, 2012 (kleine Geschichten, Verlag Thomas Tonn), Lausägefisch – Maritime Seelen 2022 (Gedichte, gemeinsam mit Jule Steinbach, Holzschnitte, Kunstbuch-Eigenverlag).

Eugen-Wolff-Literaturpreis der Fachschaft Deutsch, Christian-Albrechts-Universität Kiel, 2004. Erster Platz beim Bad Godesberger Literaturpreis, 2017.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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