Das fehlende Puzzleteil

Selina Kissmann für #kkl25 „Raum“




Das fehlende Puzzleteil

Das einzige Geräusch im Raum war das viel zu laute Ticken der alten, hölzernen Wanduhr mit ihrem römischen Ziffernblatt. Es hämmerte in Nicoles Ohren, dass es beinahe schmerzte. Sie spürte, wie sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Ob das der Anspannung verschuldet war oder der Hitze, die sich in dem kleinen Zimmer, gefüllt von fünf Menschen, angestaut hatte, konnte sie nicht einschätzen.

Hektisch fixierten ihre Augen einen Punkt nach dem Anderen. Irgendetwas musste sie übersehen haben.

Sie waren nun schon seit etwa vierzig Minuten eingesperrt. Was ein krankes Spiel. Ihnen blieb kaum mehr Zeit, ehe das angekündigte Gift durch den viel zu kleinen, an der Decke befestigten Lüftungsschacht den Raum fluten würde. Wer auch immer sich all das ausgedacht hatte, hatte sich keine große Mühe geben wollen. Vermutlich hatte er oder sie die Idee von „Saw“ gestohlen. Es ist ganz einfach. Irgendwo ist ein Schlüssel. Findet ihn und ihr seid frei.

„Ganz einfach“. In Gedanken lachte Nicole über den offensichtlichen Scherz des Spielemachers. Der Schlüssel lag nicht etwa unter der Fußmatte mit dem Sonnensymbol – wo sie gleich als erstes nachgeschaut hatten. Er war auch in keiner Schublade vorzufinden. Nein, so einfach war es dann doch nicht, dabei waren sie zu Beginn auf einem guten Weg gewesen. Sie hatten das Caro-Ass gefunden, ebenso wie die Taschenlampe, mit deren Hilfe auf der Rückseite der Spielkarte ein Zahlencode angezeigt wurde. Sie hatten auch die Fehler auf der kosmologischen, im Vintage Style gehaltenen Sternenbildkarte gefunden und damit den Schlüssel für eine der Schubladen erhalten. Selbst dem schwierigen Glühwürmchen-Rätsel sind sie auf die Schliche gekommen, doch nun befanden sie sich in einer Sackgasse. Keiner wusste mehr weiter. Jeder von ihnen stand in einer Ecke des Raumes, und sah sich stillschweigend um, versunken in den eigenen, wirren Gedanken.

Haben wir schon unter dem Schreibtisch nachgesehen? Vielleicht funktioniert der Schlüssel für ein weiteres Schloss? Sind die mathematischen Aufgaben in dem Notizbuch mit ledrigem Einband vielleicht eine verschlüsselte Nachricht?

Nicoles Gehirn, durchströmt von Adrenalin, schaltete in den Turbo-Modus. Sie wusste, sie waren der Lösung so nahe. Es fehlte nur noch ein Puzzleteil. Sie verstand zwar noch immer nicht, worin der Sinn lag, Menschen einzusperren, ihnen den Tod anzudrohen, gleichzeitig aber die Möglichkeit der Flucht zu bieten, wenn auch unter scheinbar unmöglichen Bedingungen, doch das spielte alles keine Rolle mehr. Nichts spielte eine Rolle, außer dem Ticken der Uhr, welches sie alle darauf hinwies, wie wenig Zeit ihnen blieb.

Emmas Blick, welcher im Raum ergebnislos hin und her blickte, verfing sich an der auf dem Schreibtisch liegenden Caro-Ass-Karte, direkt neben dem Notizbuch. Sie trat näher heran, ohne die Idee, die sie antrieb, fassen zu können. Unter ihren Füßen knarrte der Boden, so laut, dass sie vermutlich jeder ansah.

Wie benebelt lief sie weiter die Wände entlang, wo Elias stand und ihr aus dem Weg springen musste, damit sie ihn nicht in ihrer Trance anrempelte. Die Bilder, die mit goldenem Rahmen verziert waren, hatte sie sich schon so oft angesehen, immer ohne neue Erkenntnisse zu gelangen, doch dieses Mal hatte sie eine Idee, wonach sie suchte. Jedes Bild zeigte ein Porträt von Menschen, die dem Kleidungsstil nach zu urteilen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammten. Es waren unterschiedliche Personen, die doch so gleich aussahen. Keine Auffälligkeiten, bis auf eine.

Nicole blieb vor einem der Bilder stehen. Ihr Blick huschte hinüber zur Fußmatte und wieder zurück zu dem Porträt, dass sie mit schiefem Blick begutachtete.

»Was siehst du?«, fragte Elias, der neben ihr aufgetaucht war. Für einen Moment war sie so benebelt von der Realisation, wie nah er stand, dass sich ihre Schultern schon berührten, dass sie die Frage nicht verstand, doch mit dem Ticken im Ohr schaffte sie es, die Konzentration zurückzuerlangen.

»Licht.« Sie spürte den fragenden Blick auch ohne, dass sie sich zu dem großen blonden Mann herumdrehte. Auch hörte sie, wie der Boden wieder zu knarren begann. Die anderen näherten sich, um ihrer Erkenntnis folgen zu können – falls sie denn eine hatte.

Ohne die Gedanken in ihrem Kopf, die Karussell fuhren und gleichzeitig auf einem Trampolin zu hüpfen schienen, fuhr sie auf der Stelle herum und scannte den Raum erneut ab, wobei sie über ihre gespannt dreinblickenden Freunde hinwegsah.

»Was meinst du mit Licht?« Wollte Elias wissen, doch Nicole konnte ihm nicht gleich antworten. Sie musste ihrem Gedanken folgen, bevor sie ihn verlor. Wie ferngesteuert schlenderte sie durch den Raum hindurch, vorbei an dem Schreibtisch und dem Bücherregal, dass sie auf der Suche nach Hinweisen quasi auseinandergenommen hatten.

»Nicole, rede mit uns. Was hast du entdeckt?«, fragte Kim von der anderen Seite des Zimmers.

»Es geht immer um Licht. Oder um Lichtquellen. Die Taschenlampe, die Sterne, die Glühwürmchen. Sie alle haben etwas gemeinsam: Sie strahlen Licht aus. Was strahlt noch Licht aus?« Nicole pausierte kurz, während sie noch einmal durch die am Boden liegenden Bücher blätterte.

»Feuer«, erklärte sie, nachdem keine Antwort erfolgte.

»Eines der Bilder sieht anders aus. Die Ränder sind dunkler und nicht gerade. Als wären sie verbrannt. Wo aber finden wir Feuer?« Nicole schlug das Buch enttäuscht vor sich zu. Ihr war noch nichts Verbranntes zuvor aufgefallen. Worauf zielte dieses Rätsel nur?

Sie stand wieder auf und sah zu Elias hinüber. Erst dachte sie, er würde sie beobachten, was ihrem Herzen einen kleinen Sprung bereitete, doch sie merkte schnell, dass er an ihr vorbei sah. Sie folgte seinem Blick. Im selben Moment, als sie den Gedanken fasste, sprach er ihn aus.

»Wie wäre es mit einem Rauchmelder?«

Daniel, der körperlich Größte der Gruppe, nahm den Rauchmelder von der Wand ab und tatsächlich erschien ein Loch dahinter. Bingo!

Mit etwas Unbehagen im Gesicht steckte Daniel seine Hand in das dunkle Loch und zog eine Schachtel heraus. Streichhölzer.

»Was sollen wir damit anfangen? Wir können doch nicht wild irgendwelche Sachen anzünden.« Ein berechtigter Einwand von Emma, die dank ihrer leichten Klaustrophobie mit dem Voranschreiten der Zeit immer nervöser geworden und seit nun knapp zwanzig Minuten kaum mehr zu gebrauchen war.

»Nicht irgendwelche Sachen. Nur die Eine.« Nicole nahm Daniel die Streichholzschachtel aus der Hand und stellte sich siegessicher vor das bereits angekokelte Bild, welche ihre Rettung sein sollte. Mit etwas zittrigen Fingern und unter wachsamer Beobachtung aller mit-Gefangenen hielt sie die Flamme unter das Bild, welches sich sofort auflöste, allerdings etwas anderes preisgab. Eine Notiz, geschrieben auf einem Glasfasergewebe, vermutlich mit Silikon beschichtet, wodurch es von der Flamme nicht zerstört wurde. Nicole hob die Nachricht vom Boden auf und las sie laut vor.

»Jahre, Kilogramm, Grad, Kilometer.« Es dauerte einen Augenblick des Grübelns, bis Nicole ein Licht aufging – im wahrsten Sinne des Wortes.

»Die Zahlen und mathematischen Aufgaben, das sind Angaben!« 4,603 × 10^9, 1,989 × 10^30 kg, 15 Millionen, 149.600.000 – das ist die Sonne!

»Die Fußmatte!«, rief sie, doch ihre Worte wurden von einem anderen Geräusch übertönt. Ein lauter, piepender Ton, der immer nur für den Bruchteil einer Sekunde unterbrochen wurde, wie von einem Rauchmelder. Doch das war er nicht. Leider. Nach kurzer Zeit wurde alles wieder still im Raum und die Tür, die sie so lange sehnsüchtig angesehen hatten, öffnete sich. Ein Mann trat ein.

»Verdammt!«, fluchte Elias und sprach damit nun schon zum zweiten Mal ihre Gedanken laut aus.

»Tut mir leid, Leute«, sagte der Mann mit der tiefen Stimme und zuckte dabei mit den Schultern.

»Vielleicht beim nächsten Mal. Und vergesst nicht, uns auf TheExitRoom.de zu bewerten!«




Selina Kissmann studiert Sozialwissenschaften in Gießen, der Stadt, in der sie 2001 geboren wurde. Nebenbei ist sie als Autorin tätig, die Kurzprosa-Texte für Anthologien schreibt und bald auch ihren Debutroman „Between Up and Down“, mit Hilfe des Book King Verlages veröffentlichen wird. Das Buch soll im Frühling 2023 erscheinen.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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