David Jacobs für #kkl25 „Raum“
Käfige
Er riecht frisch. Unverbraucht. Riecht noch nach feuchtem Gras. Gras im Morgentau. Ich stelle mir vor, wie das Mondlicht jener zum Tag heranwachsenden Nacht auf den nassen Halmen schimmerte, bevor er sein Gesicht zum Abschied tief in die Grasbüschel presste und den Duft in sich aufnahm. Ich sehe vor mir, wie sein Rücken sich mit jedem Atemzug spannte, als er den Duft des Grases in sich einströmen lässt. Als gelte es, in dem Moment des Abschieds eine Welt auszutrinken. Ich glaube, er hat dann den Kopf in den Nacken gelegt und den Atem mit einem leisen Schluchzen von seinen Lippen fließen lassen. Neu, wie junges zügelloses Leben muss ihm die Luft in diesem Augenblick geschmeckt haben, stelle ich mir vor und suche in seinem Atem, den Geruch eines Mannes, der geliebt hat. Noch jetzt verströmt er den Duft von Salz, riecht nach Meer und nach dem süßen Schweiß, der sich auf seinen Augenlidern sammelt, wenn er küsst.
Aber er weint. Zwängt sich durch den Eingang unseres Zimmers, das mit den Wohnkäfigen so eng bestückt ist, dass man sich nur seitwärts in den schmalen Gängen zwischen den Gittern hindurchschieben kann und es verschlägt ihm den Atem, als er eintaucht in unseren Dunst. Dem Geruch, der von verschwitzen Körpern aufsteigt, die in den Käfigen kauern, schlafen, herumlungern und gleichgültig von ihm Notiz nehmen. Unser Atem schlägt sich an den Wänden des Zimmers nieder und beschlägt das kleine Fenster zum Hof. In trüben Tropfen rinnt die Feuchtigkeit an dem Glas der Scheibe hinab, sickert in das schwammige Holz des Fensterbretts, auf dem während des Kochens Tüten mit Lebensmitteln stehen. Die Luft ist stickig. Schwer. Fett von Müdigkeit.
Er streicht sich Tränen aus den Augen, als Nilay auf den Wohnkäfig zeigt, in dem er die nächsten Monate leben wird. Sie sorgt hier für Ordnung.
“Du sperrst immer ab. Wenn du kochst. Wenn du aufs Klo gehst. Immer”, sagt sie und drückt ihm das schwere Vorhängeschloss in die Hand, dreht sich um, schiebt zwei Gaffer zur Seite, drückt sich in den schmalen Gang, zwischen den Käfigen und ist verschwunden, bevor er fragen kann.
Mein Käfig grenzt an seinen. “Ich bin Debby. Wir sind Nachbarn. Sperr deine Sachen gleich ein. Ich erklär dir, wie es hier läuft”, versuche ich ein Gespräch anzufangen.
Er schüttelt schweigend den Kopf, begutachtet die dünne Matte, die zwei Drittel des Käfigbodens bedeckt. Als er sie hochhebt und darunter blickt, zuckt er zusammen. Er verzichtet darauf, sie zu wenden.
Immer drei Käfig sind übereinandergestapelt. Er hat Glück. Hat einen mittleren erwischt. Es ist leichter, dort hinein zu steigen. Die Bodenkäfige sind dunkel. Man muss auf dem Boden kauern, um hineinkriechen. Und es ist schwierig, in die oberen Käfige hinaufzuklettern, die sich unter die Zimmerdecke drängen. Außerdem ist die Luft dort oben dumpf und stickig.
“Du hast Glück. Du hast einen guten Käfig erwischt. Ich bin Debby”, sage ich.
Er schüttelt den Kopf. Tränen rinnen ihm über das Gesicht, als er eine graue Wolldecke über die Matte breitet, seinen Rucksack ans Fußende legt und leichtfüßig in seinen Käfig gleitet. Er zieht die Gittertür zu und sperrt sich ein.
“Du brauchst hier einen Freund”, sage ich.
Er verneint stumm und hängt ein Tuch vor das Gitter, das unsere Käfige trennt. Schließt mich aus.
Ich höre, wie er weint. Ich schnuppere. Er riecht immer noch nach Gras. Aber sein Duft verliert sich bereits. Er zieht sich in sein Schweigen zurück. Kapselt sich ab.
“Mach endlich dein Scheissradio aus”, rufe ich zu Mirza hinüber. Er wohnt zwei Käfige weiter.
“Siehst du nicht, dass er schlafen will. Er ist müde”, sage ich und nehme eine von den kleinen roten Pillen.
Als ich aufwache, höre ich den Regen gegen das kleine Fenster trommeln. Das Licht sickert durch die beschlagene Scheibe. Es muss noch sehr früh sein. Vorsichtig schiebe ich das Tuch mit einem Finger zur Seite und versuche einen Blick auf den Neuankömmling zu erhaschen. Der Käfig ist leer, die Gittertür offen. Ich höre seine Schritte, als er zurückkommt. Er muss auf der Toilette gewesen sein. Der Käfig knarzt leise, als er wieder hineinklettert.
“Ich bin Debby. Du musst immer absperren. Immer. Hörst du”, sage ich in das Dämmerlicht hinein.
Er schweigt, dreht sich weg. Ich starre in das Grau des neuen Morgens und lausche auf seinen flachen Atem. Er versteckt sich in die Stille, die ihn umgibt.
“Gras riecht so. Nasses Gras”, denke ich, als ich vorsichtig an seinem Tuch schnuppere.
Es wird langsam hell und aus den Käfigen dringt ein Wispern, als die Schläfer beginnen, die Träume der Nacht abzustreifen. Ich drehe mich auf die andere Seite, lasse mich noch einmal zurück in den Schlaf gleiten.
Als ich aufwache ist er schon fort. Sein Rucksack liegt auf der Matte. Er hat die Gittertür abgesperrt. Aber ich muss ihm sagen, dass er den Rucksack nicht an das Gitter lehnen darf. Ich mache mich für die Arbeit fertig und schlüpfe hinaus in den Tag.
Als ich abends heimkomme, ist er schon da. Er sitzt in seinem Käfig. Trinkt Tee. Die Gittertür ist angelehnt. Er hat sich nicht eingesperrt. Ich spüre, wie müde er ist. Er blickt auf, als ich vor seinem Käfig stehen bleibe. Sein Gesicht ist abweisend.
“Ich bin Debby. Ich habe Kekse mitgebracht”, sage ich.
Er blickt erschrocken auf, als ich seine Gittertüre einen Spalt weit aufdrücke und die Untertasse mit den Keksen an das Fußende der Matte stelle. Ich ziehe die Gittertür schnell wieder zu und gehe einen Schritt zurück.
“Du musst keine Angst haben”, sage ich. “Ich bin Debby.”
Als ich wieder in meinem Käfig sitze, kann ich hören, dass er einen Keks nimmt. Ich höre, wie er kaut. Rieche den Sesam und den Honig. Ich weiß, wo man gute Kekse bekommt.
“Du darfst deinen Rucksack nicht gegen das Gitter lehnen, sonst kommt man leicht von außen dran”, sage ich halblaut. “Am besten hängst du ihn an einem Haken mitten über die Matte.”
Er antwortet nicht. Nachts höre ich, wie er seinen Käfig zusperrt, als er zur Toilette geht.
Am nächsten Morgen ist er schon wieder fort, als ich aufstehe. Ich sehe seinen Rucksack mitten auf der Matte liegen. Es ist jetzt schwerer, von außen heranzukommen. Ich schiebe drei kleine Haken durch das Gitter, damit er etwas hat, woran er seine wenigen Habseligkeiten aufhängen kann. Dann nehme ich meinen Stab und schiebe die Haken so zurecht, dass sie mitten auf der Matte liegen.
Als ich abends heimkomme, sehe ich, dass er nicht da ist. Aber er hat die Haken gefunden. Über dem Fußende seiner Matte hängt der Rucksack und eine Tüte mit Lebensmitteln. Er hat sein Hemd gewaschen. Irgendwo muss er einen Kleiderbügel aufgetrieben haben. Sein Hemd hängt an dem Gitter, das unsere Käfige trennt. Das Tuch ist leicht verrutscht. Ich schlüpfe in meinen Käfig, bevor er auftaucht. “Wahrscheinlich ist er bei Nilay, um etwas zu fragen, oder die Miete zu zahlen”, überlege ich, als ich mich hinkauere und auf Spotify nach einer passenden Playlist für den Abend suche. Ich stöpsle meinen Kopfhörer in das Smartphone, nehme eine von den kleinen roten Pillen, schließe die Augen und lass mich davontreiben.
Ich werde wach, von seinem Geruch. Ich schnuppere vorsichtig und öffne die Augen.
“Gras”, denke ich, “er riecht immer noch nach feuchtem Gras.”
Ich blinzle vorsichtig und sehe durch den Spalt meiner Augenlider, dass er das Tuch zwischen unseren Käfigen etwas zur Seite geschlagen hat.
Seine Hand ruht an dem Gitter, das uns trennt.
Er blickt mich an und sagt etwas, das ich nicht verstehe, weil meine Musik zu laut ist. Ich richte mich ganz behutsam auf und schiebe den Kopfhörer nach hinten.
“Ich bin Bernd”, höre ich ihn sagen.

David Jacobs wurde 1960 in Göttingen geboren und lebt seit 2016 in der Gegend von Bonn. Er begann 2017 im Rahmen eines Theaterprojekts mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und Gedichten. Seitdem kann er nicht mehr aufhören, zu schreiben. Aktuell arbeitet er an seinem ersten Roman mit dem Titel „Friedrichs kurzer Krieg“. David Jacobs nähert sich seinen Themen gerne aus einem überraschenden Blickwinkel. Er findet aber, dass es einem Text in jedem Fall gut ansteht, verständlich geschrieben zu sein. „Es ist gar nicht so schwer, einen guten Text durch Kürzen zu verbessern …“, sagt er gerne. Aber wirklich einfach ist das auch nicht. Schließlich schreibt sich ja jedes der Worte erst einmal mit Herzblut. Aber das nachträgliche Streichen liebgewordener Sätze ist immer noch einfacher, als eine Geschichte von vornherein hervorragend zu schreiben.
2019 erhielt er für seine Kurzgeschichte „Haikus” den 2. Preis der Jury, sowie den Publikumspreis beim Schreibwettbewerb um den Grassauer Deichelbohrer.
Außerdem gewann er für die Kurzgeschichte „Robinson und Level –17″ den Novemberschreibwettbewerb des Literaturhauses Zürich im Jahr 2019. Der Text wurde gemeinsam mit den anderen Gewinnertexten des Jahres 2019 vom Literaturhaus Zürich veröffentlicht.
2021 gewann er den Schreibwettbewerb „Wortrandale“ in Berlin in der Kategorie „Spannend“.
Ebenfalls 2021 erhielt er den Schaeff-Scheefen-Preis des fränkischen Autorenverbands. Er gab aber die Auszeichnung und das Preisgeld zurück, nachdem er von den antisemitischen und vom Nationalsozialismus geprägten Äußerung des Namensstifters des Preises erfuhr. In der Folge benannte der Autorenverband Franken seinen Preis um.
Mit der Kurzgeschichte „Heimkehr“ belegte er den 3. Platz beim Literaturwettbewerb der 13. Bonner Buchmesse Migration.
Da David Jacobs feststellen musste, dass seine Geschichten gelegentlich klüger sind als er selbst, vertraut er inzwischen lieber der Schönheit des Texts und der Intelligenz der Leser als dem eigenen Plan; oder andersrum.
Photographie: Christof Mattes
Publikationsliste David Jacobs
David Jacobs macht Geschichten – 20 kurze Texte
Roland Reischl Verlag, Herthastr. 56, 50969 Köln
2022
www.rr-verlag.de
ISBN: 978-3-943580-42-6
Veröffentlichungen in Anthologien
Kurzgeschichte „Schatten“
in der gleichnamigen Anthologie
Hrsg. Susanne Mathies
Lektorat: Susanne Mathies
Litac Verlag
ISBN 978-3-9524849-3-7
Kurzgeschichte „Haikus“
in der Anthologie „Nähe“
Hrsg. Angeline Bauer
by arp Verlag
ISBN 978-3-946280-60-6
Kurzgeschichte „Marie und die Kunst der Pause“
in der Anthologie „Pause“
Hrsg. Sebastian von Bomhard
Himmer Verlag
ISBN 978-3-944991-09-2
Kurzgeschichte „Robinson und Level -17“
in der Anthologie „ZweiTausendNeunZehn“
Hrsg. Literaturhaus Zürich
http://www.literaturhaus.ch/literaturhaus/textdesmonats/robinson-und-level-17-von-david-jacobs
ISSN 2297-4903
Kurzgeschichte „iPrey“
in neolith #5 – Das Magazin
Zeitschrift für neue Literatur an der
Bergischen Universität Wuppertal
ISSN: 2513-1176
Kurzgeschichte „Käfige“
in neolith #6 – Das Magazin
Zeitschrift für neue Literatur an der
Bergischen Universität Wuppertal
ISSN: 2513-1176
Kurzgeschichte „Danach”
in der Anthologie „Umbrüche”
Hrsg. H. und W. Rollof
Verlag Rollof
ISBN 978-3-944758-30-5
Kurzgeschichte „Safe Crowd©”
in der Anthologie „Achterbahn”
Hrsg. ProMÖLLTAL
Verlag Anton Pustet
ISBN 978-3-7025-1013-8
Kurzgeschichte „Apfelbäume”
in der Anthologie „Corona Schnee”
Hrsg. Diana Iwanowa
Salon 29
ISBN 978-3-00-069048 –8
Kurzgeschichte „Stell dich”
in der Anthologie „Mensch sein, Herz haben, sich empören”
Hrsg. Reinhard Rakow
Geest-Verlag
ISBN 978-3-86685-861-9
Kurzgeschichte „Martin und die Dinge
In der Anthologie „Ich, Mensch – Worte gegen Ableismus“
Herausgegeben vom Autorenkollektiv Frei!Geist
Freigeist Autorenverlag
ISBN 978-3-7565-2123-4
Kurzgeschichte „Heimkehr“
In der Anthologie „Was ist Heimat“
Herausgegeben von der 13. Bonner Buchmesse Migration
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