Raum und Zeit

CLARA PISTNER für #kkl25 „Raum“




Raum und Zeit

ich da drin – irgendwo schwimme schwindelig

kein Fixpunkt

was mach ich mit meinem Leben? was ist ein Leben?

Zeit in Raum

Ein Raum in der Zeit

Ich suche, will finden

oder will mit Freude suchen

will – der Wille

Was – ist – der – Wille?

Ein Funken

in irgendeinem Raum schwebend in der unendlichen Zeit

Kurz vorm verglühen

Ich bin kurz davor – bald bald verglüht

unbeschreibliche Angst davor was kommt danach?

Ausgebrannt resigniert Bitterness.

Die große Ernüchterung Keine Illusionen mehr ganz still

und grenzenlos traurig maßlos

Das Feuerwerk ist vorbei jetzt ist alles ruhig

Alles dampft

keine Kraft mehr

kein Leichtsinn nur Schwere erschöpfte

ausgeschöpft leer

wollte nur aus den Vollen schöpfen für immer

Für immer war so kurz

Wie mache ich weiter?

Mir ist die Hoffnung abhanden gekommen Grauer kalter Wind – scharf beißend ätzend immer tränende Augen

immer ein kleines bisschen weinen

hört nicht auf

möchte so gerne ein Mal inbrünstig heulen mit Pauken und Trompeten

Leidenschaft Befreiung

Total ernüchtert

träumte letzte Nacht ich hätte ein Drogenproblem

Ich bin am Nullpunkt

Ground Zero

Über mir die undenkbare Bombe gewesen

jetzt Stille

Wir machen immer weiter

christlich pflichtbewusst

laufen fahren umsteigen fahren umsteigen fahren laufen immer weiter koste es was es wolle

koste es uns alles

wie die Ameisen tragen wir das zehnfache des Tragbaren

alte Möbel runter, raus, neue Möbel her, durch die ganze Stadt, Treppen runter, Treppen rauf, was für eine Plackerei (- warum diese Mühe?) unaussprechlich erschöpft.

wir alle

gleichzeitig

ich war so hoffnungsvoll wie du, die da, mit ihrem frischen Gesicht
unverbraucht vor Zuversicht strotzend, triefend, großzügig protzig mit leuchtendem Teint

wann ist mir das passiert? Es ist noch gar nicht lange her. Vier Jahre? drei, zwei, eins

Ich bleibe zurück im Staub

möchte mich suhlen, wälzen, einreiben, schreien! was für ein Spaß, was für ein Genuss!

Was für ein Irrsinn. Mein Mundwinkel zuckt unvorstellbar zynisch

Kehre zusammen mit bloßen Händen ergeben gleichmütig

unmöglich und tue es trotzdem „Das hält doch kein Mensch aus“

Sammle die Scherben auf nach der großen Party wann war die Party? Habe sie verpasst. (War wohl nicht eingeladen.)

Es laufen zwei junge Studierende vor mir, wir sind auf dem selben Weg, laufen an einem älteren Paar vorbei, als ich sie passiere sagt einer der beiden heftig „Was für eine Scheiße die reden!“

Es geht immer weiter eins ums andere Schritt für Schritt und steter Tropfen höhlt den Stein

bis ewig schwarz das Ende

n a h t

wir sind ein Massenprodukt

auf dem Fließband der Großstadt Millionen Bewusstseins

keisen um ihre eigene Nichtigkeit absurd ernsthaft

es geht um alles

wir halten fest, ziehen mit aller Kraft, reißen, drücken bis die Adern anschwellen

eilen in Bahnen und Bussen hinterher

auf vorgetretenen Wegen, die die Stadt durchziehen wie pulsierende Verästelungen in unüberschaubaren Gedärmen eines unmöglichen Wesens

Wir sind verloren

Die Jungendlichen ahnen es schon 
wir laufen nur noch stumpfsinnig im Autopilot traben

sind längst falsch abgebogen

es lohnt sich nicht mehr umzukehren

Das kann doch kein Mensch aushalten. Was ist ein Mensch? rufe ich verwirrt, panisch, kreische Was ist das nochmal?

Wie kann das sein? Eben wusste ich es doch noch…

Laufe von einer Person zur nächsten, flehe sie an, schüttle sie – sie schauen leer verständnislos

angewidert

Was ist mit mir? und was ist mit euch allen? wer seid ihr? und weshalb tut ihr so allwissend? versteinerte Minen vielsagend still

Konterfeis aus Beton

erstarrt auf dem Weg,

während der obligatorischen Wartezeit, unumgängliche Prozedere

Gott ergeben, fügen uns den sich langsam stetig drehenden Zahnrädern, zerreiben, im unaufhaltsamen Gefüge

gleiten von einem Schleifstein auf den nächsten werden immer runder und kleiner

erst Sand dann Staub

irgendwo zwischen reihengeschaltenen Abläufen festgelegt rhytmisches Klopfen und Rasseln

im Ablauf der Zeit

So ein kleines Leben.

Das Angesicht der Vergänglichkeit.

Den ganzen Tag höre ich leise meinen Wecker mal nah mal fern, nicht zu fassen

Ist es echt? wo geht es aus? wo geht es raus?

Nervenaufreibendes Hintergrundschrillen, kostet mich all meine Kraft kann meine eigenen Gedanken kaum hören hinter diesem unbegreiflichen Tinitus

Ganz leise, wenn du genau hin hörst, kannst du ihn auch hören

Hörst dus?

Er brüllt mir ins Ohr, mein Schädel dröhnt alles vibriert in Schüben das Echo, wiederhallend in den Windungen meines Inneren. Wellenartig wiederholt sich der grelle Ton. Ich will mir die Haare ausreißen! Wie könnt ihr ihn so gut ignorieren?

Ihr lasst euch nichts anmerken.

Ich muss gaffen, glotze euch an besinnungslos warte – gleich, es muss doch mal aufbrechen aufklaffen, jeden Augenblick, will deinen Abgrund sehen „ZEIGT MIR EURE WUNDEN“ schreie ich keiner scheint mich zu hören. Ich schreie stumm und markerschütternd. Haste weiter immer weiter weiter hangle mich von Pfeiler zu Pfeiler mich überströmen heiße Flüsse stolpere in wilder Verzweiflung und stürze

Eine große warme Hand von irgendwo vor mir oben ich greife nach ihr hastig gierig fester Griff Dankbarkeit durchströmt mich sogar Zuversicht wer ist die liebevolle Fremde? die mich gesehen hat für einen Augenblick schon wieder weg verschollen spüre noch ihren gutartigen Druck auf meiner Haut inhaliere den Hauch von lieblichem Licht bereits verschwindend mein Lächeln verblasst, schal.

So jetzt reichts aber, es gibt noch so viele Dinge zu tun, Lust zu leben, Farben zu schmecken

höre ich mich sagen. Verwundert lausche ich, ist ja erstaunlich.

Weißt du noch, da drüben saß mal jemand – ja, das warst du. – hahahaha! Mal ich, mal du!

Das war mal ich

und so wie du, werde ich mal sein

wer bin ich und wer war ich im Traum?

Mein Magen knurrt, ein hungriger Tremor, ein tiefer Subwoofer, ungehalten, ungeduldig. Ich bin nicht zu füllen esse und esse und niemals hält es an, reicht es aus, stopfe mir im Vorbeigehen einen bröseligen alten Schokoirgendwas rein, beachte es kaum, es bringt keine Linderung

Ich bin auf einer Insel, einer Plattform im Wasser, mit anderen Kindern, sie sind auch arm, ich bin gleichzeitig erwachsen und Kind, eines von ihnen erklärt, dass man ohne Schuhe eigentlich besser schwimmen könne, aber für den langen Fußweg würden wir sie noch brauchen. Ich mache mir Sorgen, wann werden wir uns auf den Rückweg machen? Ich habe Angst vor der Strecke, es wird viel Kraft kosten. Die anderen scheinen keinen Gedanken daran zu verschwenden, liegen seekuhartig auf den warmen Holzdielen und genießen die Sonne. Beschließe dann, mich etwas umzusehen, laufe umher. Eine enorm große Fläche voller Menschen, an kleinen Tischen, ein Straßencafe, ich laufe näher heran, schiebe mich über den eng bestuhlten Platz, es sind sehr reiche Leute, mit Föhnfrisuren, Lipgloss, Sonnenbrillen, getrimmten Bärten, kühl blasierten Gesichtern, trinken Sekt, frisch gepressten Orangensaft und Flat Whites. Ich lasse meinen Blick über die Szene schweifen – alle haben Jeans an, Jeans Jacken, Jeans Hemden, Hosen – alles in allen Blautönen. Ich wende meinen Blick ab. In der Ferne zieht ein Unwetter auf, ein schweres. Der Himmel schwarz, über einer Stadt am Ufer des Wassers. Ein Plattenbau steht in Flammen, ein Hubschrauber hat Mühe sich dem Unheil zu nähern, dichter Qualm steigt auf. Ich sehe mich aufgebracht um. Sorge, Angst, Panik, keiner scheint zu sehen, was da los ist. Ich frage mich, ob sie das einfach nicht bemerken, oder ob sie dem keine Beachtung schenken, sind sie das gewohnt? Ein riesen Gewitter kommt auf uns zu, das betrifft auch uns, will ich schreien. Ich laufe an einem Tisch vorbei. An ihm sitzt eine Familie, sie sehen einander ähnlich, zwei Teenager, wie die Mutter blond, weiß, Eltern um die 40, grau meliert, sie stoßen an, ich denke „Champagner“, aufgesetzte Heiterkeit. „Sie lieben nichts“ höre ich mich denken – oder habe ich es gesagt? Kommt aufs selbe raus. Mein Magen knurrt, mir wird schwarz vor Augen. Meine Knie fangen an zu zittern und ich habe das äußerst beunruhigende Gefühl, dass sie gleich nachgeben und ich sehne mich nach einer Bank, einer Treppe, einem Felsen, irgendwas auf das ich mich setzen könnte.

Ich fühle eine Hand in meiner, ganz groß und stark, umhüllt mich, nein ganz klein, ganz klein und warm und weich und bestimmt. Ich halte sie aber vor allem hält sie mich. Ich glaube sie rettet mich. Ich blicke herunter. Freudestrahlend gibt sie mir eine kleine schmutzige Büroklammer, die sie auf dem Boden gefunden hat. Ich begreife sofort und bin ebenfalls verzückt von dem Wunder dieser Büroklammer. Beseelt nehme ich sie an, nehme sie auf, stecke sie in meine Tasche und in meine Seele. Sie ist mein Talisman geworden, den ich in meiner Jackentasche festhalte, mich an ihm festhalte. Ich weiß, ich darf ihn nicht verlieren, er ist alles was ich hab.

Eine Sirene schrillt und ich schrecke auf. Ich liege in der Ecke eines versifften Hauseingangs. Es dämmert, Oh Gott es muss morgen sein! Meine Wäsche liegt schon seit 12, 18, mindestens 20 Stunden in der Maschine! Und ich hatte noch was auf dem Herd! Wie konnte das nur passieren?! Wie konnte ich hier in dieser verdreckten vollgepissten Ecke so besinnungslos einschlafen?! Ich sehe mich um. „Tausend Schichten Schmodder, verkrustete Sedimente unzähliger“, dämmert es mir… und eilig raffe ich mich auf, stolpere einige Schritte drauflos. Wo bin ich? Wo muss ich hin? Ein unangenehmer schwerer Lumpen hängt hartnäckig an meinem Bein und zieht lästig lang hinter mir her. Ich versuche ihn ärgerlich abzuschütteln und gebe sofort auf. (Du gehörst also jetzt zu mir.) Egal, ich muss weiter. Der bestialische Gestank von alter Pisse, Durchfall und feuchtem Moder verfolgt mich. Verstohlen rieche ich an meiner Schulter, bin ich das? Merken es die anderen? Sehen sie es mir an? Sieht man mir an, dass ich gerade aus Versehen in einem verlotterten Hauseingang geschlafen habe? Ich wundere mich kurz über den Gedanken und bevor ich dem nachgehen kann, fällt mein Blick auf einen U- Bahneingang. Das leuchtende U überflutet meine Sicht mit Wärme und Orientierung verheißendem Blau und ich muss vor Glück laut lachen. Tränen der Dankbarkeit wollen mir in die Augen schießen doch ich unterdrücke sie sofort, breche jäh mein Lachen ab, das merkwürdig hyänenartig klingt. Ich senke verschoben grinsend meinen Blick. Bloß nicht auffallen. Irgendwie kam ich nach Hause. Im Treppenhaus kommt mir jemand entgegen, ich wende mein Gesicht ab und murmle etwas, das wie „Guten Abend“ klingt. Ich frage mich promt, ob ich nicht eigentlich „Guten Morgen“ hätte sagen sollen. „Verdammt nochmal“ raune ich und schüttle den Kopf, schüttle meinen ganzen Körper, schüttle ungelenk diese absurde, grauenhafte letzte halbe Stunde ab – oder waren es eher einandhalb Stunden, seit ich an diesem schaurigen Ort zu mir gekommen bin? Wie lange hatte ich gebraucht? Und wie hatte ich überhaupt her gefunden? Egal! Jetzt bin ich hier und es fühlt sich richtig an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier zu Hause bin, aber es kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Vielleicht ja aus einer Erzählung, oder einem Traum – Genug jetzt! – oder einem Film? Schießt es mir zweistimmig durch den Kopf, als ich vor einer dunkelgrünen Wohnungstür stehe. Ich glaube ich bin angekommen. Ich drücke sanft gegen die Tür und sie geht langsam gedehnt quietschend auf. Ich sehe mich um, wie man sich in einer Wohnung umsieht, in der man das letzte Mal vor circa sieben Jahren auf einer Homeparty von Freunden von Freunden war und deren Bewohnedende nicht da sind. Den Geruch kenne ich noch. Auf einem Foto in der Küche erkenne ich das Gesicht meiner Tante. Ich bin mir jetzt sicher, dass das mein Zuhause ist. Eine warme Erleichterung überkommt mich, strömt angenehm durch meine Arterien und entspannt nach und nach alle Muskeln meines Körpers. Ich streife von Zimmer zu Zimmer, streiche über Holz, Stoff, Raufasertapete und fühle mich endlich sicher. Anscheinend hat sich jemand um die Wäsche gekümmert und auch den Topf vom Herd genommen. Danke dafür und denke nicht mehr weiter darüber nach.

Am nächsten Tag, ich hatte erstaunlich lange geschlafen, gehe ich auf die Straße und laufe los. Ein Echo sitzt leise in meinem Ohr und nervt mich unheimlich. Ich versuche es abzuhängen und pfeife aggressiv eine gewollt fröhliche Melodie. „Wie kann es sein, dass du genau das gesagt hast, was ich in dem Moment gedacht habe?“ hartnäckig wieder und wieder, mal lauter mal leiser, kneife meine Augen zusammen, die Muskeln in meinem Gesicht zucken unkontrollierbar, der Kiefer krampft. Mit zusammengebissenen Zähnen grinse ich ein verzerrtes Lächeln. Hau ab! Versuche den penetranten Quälgeist mit einer wilden Geste zu verscheuchen. Überall dieser Satz, er wird lauter, vielschichtiger, von allen Seiten, gleichzeitig. Ich pralle gegen eine entgegenkommende Person. Blicke in ein Gesicht. Angeekelt, nein verständnislos, nein durchdringend wissend. Einen Moment bleibt alles stehen und schaut mich an. Es ist kurz Ruhe. Langsam wieder die abgedämpften Geräusche des Verkehrs, ein rasantes Crescendo und das wuselige Geschehen wendet sich wieder der Tagesordnung zu.

„Hatte ich das gedacht oder war das jemand anderes? Hatte ich es wirklich erlebt oder mir nur vorgestellt? War das meine Erinnerung? War das mein Gedanke?“, hallt es. Wenn ich mich doch bloß entsinnen könnte… Eckig wische ich mir die fiebrig schwitzige Stirn. „Es ist noch nicht überstanden.“, höre ich und drehe mich blitzartig um. Will sehen, wer das war. Nichts. Hektisches Huschen hier und da, es könnte jeder hier gewesen sein. Außerdem hast du dich selbst verraten, mit deiner unbeholfenen Drehung, stümperhaft, mit vorankündigendem Luftholen, verschwörerisch forschend umherschauend! Ich setze wieder an zu pfeifen, diesmal lauter, vehementer und mit strenger Melodie: Alle meine Entchen. Es funktioniert. Ich habe weiterhin die flaue Ahnung, dass etwas nicht stimmt, aber ich versuche mein bestes, wie eine Person, die einen gerade erst frisch aufgeschlitzten Marder Blut überströmend warm triefend um ihren Hals trägt und krampfhaft so tut, als ob er ein normaler Nerzkragen wäre, mit aller Kraft die Illusion fest umkrallt, den Stolz wahren. Ich muss nur weiter laufen, es wird sich alles wieder fügen. Das muss doch mal ein Ende haben. „Alles wird gut. Alles ist gut.“ Stammle und stottre ich abgehackt so oft, bis es absolut keinen Sinn mehr ergibt. Erschöpft sehe ich mich nach etwas um, das mir Erlösung bringen könnte – Ablenkung, das ist was ich brauche. Ich sehne mich nach etwas vertrautem. Laufe unüberlegt in eine kleine Kaffeebar, ja gute Idee, Kaffee ist doch immer gut. Höre meine Stimme einen Cortado bestellen und finde mich kurz darauf die bittere Flüssigkeit mechanisch nippend an einer Theke stehend. Eine erfreute Stimme sagt laut einen Namen und jemand packt mich an der Schulter. Ich drehe mich erstaunt um und ein herzlich faltiges Augenpaar schaut mich sonnig unverhohlen an. „Mensch! Du und Kaffee!? Das ich das noch mal erlebe!“ Ich schließe daraus, dass diese Person, die michscheinbarkennt,überraschtist,michKaffee trinken zu sehen und lächle verhalten (verlegen). Es entsteht eine längere Pause, das Augenpaar schaut mich ermutigend an und mir wird klar, dass es angemessen wäre, mich zu erklären. Ich nuschle etwas von „neue Dinge ausprobieren“ und „das Leben ist zu kurz“ und hüstle ausweichend. Die Person mit den Augen scheint zufrieden zu sein, wendet sich zum gehen und sagt nochmal was darüber, wie unfassbar es sei, dass ein solcher Kaffeehasser wie ich plötzlich hier „mir nix dir nix“ Kaffee süffle und weg ist sie. Ich bleibe zurück und sinniere eine Weile über den merkwürdigen Umstand nach, dass ich wohl mal Kaffee regelrecht verabscheut habe und jetzt angenommen hatte, dass ich ihn regelmäßig konsumiere und überhaupt nichts mehr gegen ihn einzuwenden habe. Komme aber zu keiner schlüssigen Erklärung. Das war wohl auch mal ich, nehme ich an und schließe damit ab. Ich fühle mich leichter und verlasse mit einem nostalgischen Klingeln den Laden. Laufe weiter, die lärmende Straße entlang. Ohrenbetäubt denke ich, der Lärm ist wie ein Bild, in dem erst mit einer Farbe wild gekritzelt wurde, dann mit einer anderen drüber und mit einer anderen drüber und einer anderen drüber. Bis ein Dickicht aus Linien und Haken entstand; hunderte, tausende, millionen Überschneidungen und Überlagerungen, nicht mehr nachzuvollziehen- abermitkleinenLücken,aus denen einzelne, klar definierte Linien zu erkennen sind.

Es ist ein anderer Tag und ich schlendere eigentlich frohgemut über die Straße über einen Grünstreifen, zu einer Bank. Ich sitze da, lasse die Zeit vorüber gehen, denke nichts und fühle nichts. Eine Person auf der anderen Seite läuft schleppend gebeugt, hievt triefend um die tausend Taschen. Rot ächzend geplagt buckelt sie viel zu schwere Säcke und zerrt ihre Arme, an denen die Tüten und Beutel über den Boden schleifen Schritt für Schritt hinter sich her, taumelt, hechelt. „Das ist so unfassbar anstrengend“ schnaufe ich „Ich kann nicht mehr.“ Meine Schultern schmerzen unbeschreiblich, die Träger und Bändel schnüren in meine Handgelenke, meine Haut brennt, blutig rinnt es gleichzeitig heiß und kalt an meinem Körper hinab, über meine Wangen, Brust, Rücken, Schenkel. Meine Beine sind ganz weich und zittern. Ich spüre, wie die Muskeln in meinen Pobacken mit vereinter Kraft krampfen. Meine Fußsolen wund und platt, aufgerieben, brennend heiß. „Das bin doch ich!“, rufe ich entsetzt. „Das bin doch ich“, höre ich erneut und blicke der PersoninsGesicht- dasistmeins,dasbinich.Das ist mein Gesicht. Ich schaue mich um und sehe eine obdachlose Person auf dem Boden – es ist so kalt und nass, zieht mir in die Knochen, bin steif, bewegungslos, erstarrt, denke immer wieder „Mein Leben… mein Leben…“, kann nur diesen einen Satzfetzen, muss ihn wiederholen, immer wieder. Das bin auch ich. Sie hat ebenfalls mein Gesicht. Ein Kind läuft vorbei, irritiert, besorgt: „Was ist mit ihr?“ – auch mein Gesicht. An der Hand seiner Mutter, die es eilig weiter zieht. „Scheiße, wo leben wir hier?! So muss mein Kind aufwachsen! So viel Elend, ich kann es nicht mehr ertragen!“ so viel Wut und Trauer in ihrem Gesicht – es ist meins. Auch das bin ich. Ich beschließe den Tag für heute gut sein zu lassen. Das war genug. Ich stehe auf, laufe zu meinem Haus, die Treppen hoch zu meiner Wohnung, dessen Tür immer noch offen ist. Zum Glück, denke ich, ich wüsste sonst gar nicht, wo ich den Schlüssel suchen sollte. Ich lasse mir ein Bad einlaufen. Während das heiße Wasser rauschend erst den Boden, dann meine Füße bedeckt, langsam stetig meinen Körper umspült und die Badewanne füllt, lehne ich mich zurück und schaue an die Decke. Mir kommt der Gedanke :„Ja, es stimmt wohl doch. Ich fand es immer zynisch und makaber, wenn sie es sagten, „Das Leben ist ein Spiel“ Aber ja. Und ein verdammt vertracktes. Ich muss lachen. Den Rest des Tages verbringe ich in seliger Gelassenheit. Ich fühle mich heiter und angenehm unbeschwert. Tiefe Ruhe liegt wie eine satt blaue Decke über mir. Ein diffuses Gefühl von Angekommensein und Klarsicht trägt mich. Die Stunden vergehen, die Wolken bewegen sich gleichzeitig schnell und langsam übereinander und ineinander. Ich blicke Menschen ins Gesicht, vielen Menschen, so verschiedene Formen,Nasen, Münder, Kinne, Augen, Stirnen, Falten, Gedanken, Erfahrungen, Geschichten. Ich schaue mir jedes Gesicht in Ruhe an, unverwandt. Senke über unsere Verwandtschaft nach. Wie durch all unsere Adern das Blut pumpt, unsere Haut immer matter wird, wie unsere Augäpfel glänzen. Wir bestehen aus Wasser. Zum ersten Mal seit Monaten sehe ich wie rührend romantisch die Sonne über den Wolken scheint. Sie ist immer da, alles leuchtet pastellfarben, rosa, blau, orange, gelb. Nur Wolken dazwischen (ein bisschen Wasser).







CLARA PISTNER https://www.clarapistner.com/






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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