Nini Tahini für #kkl25 „Raum“
Ich will hier raus
Marie sitzt in einem Kiosk und hält eine heiße Tasse Kaffee in der Hand. Eigentlich sieht es mehr danach aus, als ob sie sich an der Tasse festhält. Etwas verzweifelt und unsicher, wie an einem Rettungsanker. Was macht sie hier? Ist das wirklich der richtige Weg? Keine Ahnung. Aber nach diesen schrecklichen Jahren, ist es auf jeden Fall der einzige Weg.
Was war passiert…
Marie hatte ihr ganzes Leben lang immer das richtige getan. Zumindest das was andere für das Richtige hielten. Immer das was man von ihr erwartet hatte. Jetzt war es an der Zeit auszubrechen. Endlich das machen, was sie möchte. Mit ihren 30 schien ihr ein Neuanfang zuerst unmöglich. Bis gestern, aber dazu später. Als Marie noch in der Schule war, wusste sie nicht so wirklich was sie einmal mit ihrem Leben anfangen sollte. Sie liebte Englisch und sie liebte Reisen. Doch immer, wenn sie mit dem Gedanken spielte, etwas in Richtung Tourismus zu machen, bekam sie von anderen nicht gerade positive Rückmeldung. Dafür muss man viel extrovertierter sein, dafür muss man gut mit Menschen können. Glaubst du schon, dass du so etwas kannst? Du bist viel zu ruhig. Viel zu langweilig. Sie hatte sich klein kriegen lassen ohne es jemals zu probieren. Und jetzt? Jetzt war sie gefangen in einem Leben das sie nicht wollte… Sie wusste nicht wessen Leben sie hier führte, aber das ihre war es nicht.
Es stimmte schon, zu Maturazeiten war Marie eher introvertiert. Sie war unsicher und nervös, wenn sie in der Klasse sprechen musste. Doch es waren gar nicht ihre Schulkameraden, die ihr ihren Traum ausredeten. Es war die Familie. Menschen, die sie eigentlich liebten, hielten ihr bei jedem Gespräch vor, was denn alles nicht gut genug an ihr war. Langweilig, unscheinbar – irgendwann fühlte sie sich in jedem Raum unsichtbar.
Doch das war längst vorbei. Nach einigen unbefriedigenden Jobs, entschied sie sich Englisch und Geografie auf Lehramt zu studieren. Damit sie zumindest irgendetwas machen konnte, dass ihr gefiel. Und sie war wirklich eine hervorragende Lehrerin und hatte keinerlei Probleme vor anderen zu sprechen. Doch irgendetwas in ihrem Leben stimmte trotzdem nicht. Da war trotzdem immer noch eine Leere und gleichzeitig ein unfassbarer Druck auf ihrem Brustkorb. Wieder nahm ihr etwas die Luft zum Atmen. Doch sie will atmen. Sie will endlich Luft. Endlich Raum einnehmen. Endlich frei sein.
Bereits während ihrem Studium hatte sie gefallen an ihrem Job gefunden und zur gleichen Zeit auch an einem Mann. Einem etwas älteren Mann. Marie fühlte sich bei ihm geborgen. Er war ein wahrer Gentleman. Das dachte sie zumindest anfangs. Als sie sich das erste Mal sahen, war sie mit Freunden etwas essen und als sie zum Tisch kam, stand er auf und schob den Sessel so zurecht, dass sie sich setzten konnte. Etwas klischeehaft, das sieht man sonst nur im Fernsehen. Doch irgendwie gefiel es ihr. Er war so ganz anders, als alle anderen. Und von denen hatte sie schließlich die Nase voll. Also begannen die beiden sich zu treffen. So richtig gesund fühlte sich diese Beziehung von Anfang an nicht an. Was genau da in sie gefahren war, weiß sie heute nicht mehr. Vielleicht die klassische rosarote Brille. Er arbeitete viel zu viel. Er wollte sich nie richtig festlegen. Freunde oder Verwandte kennenlernen? Fehlanzeige! Das war ihm dann doch viel zu ernst. Irgendwann wurde ihr klar, dass er sogar sein Auto mehr liebte als sie. Sie blieb trotzdem. Ob es Einsamkeit war oder der Sex? Sie wusste es nicht mehr. Sogar die ersten wirklich alarmierenden Zeichen, machten sie noch nicht hellhörig. Als die beiden eines Abends, nach einem Theaterstück nach Hause fuhren, beobachteten sie zwei junge Mädchen die auf den Weg in die Disko waren. Jung, gutaussehend, etwas angetrunken und sehr sexy gekleidet. Also eigentlich nichts Besonderes. Doch eines war alles andere als normal, nämlich der Kommentar ihres Freundes: „Schau sie dir an. So etwas Billiges. Die verdienen eine Tracht Prügel.“
Da war er, der Moment. Dieser eine Moment der sie dazu veranlassen hätte sollen, ihn sofort stehen zu lassen. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, aber sie sagte nichts. Ihr war übel, doch sie ging nicht. Trotz diesem schrecklichen Satz, einem Satz der sein wahres Gesicht zum Vorschein brachte, änderte sich nichts. Sie blieb weiterhin bei ihm, als wäre nichts gewesen. Und doch hatte sich alles verändert. Sie hatte da bereits Angst vor ihm, konnte sie aber noch erfolgreich verdrängen. Immer wieder sagte sie sich, es sei ja nichts Ernstes. Er wollte sich sowieso nicht festlegen. Sie wollte das ganze einfach locker auslaufen lassen. Bei dem nächsten ungezwungenen Essen, erzählte Marie, dass sie sobald sie eine Anstellung hatte, aus ihrer WG auszieht und sich eine eigene Wohnung nimmt. Sofort bestand er darauf, dann einen Schlüssel zu ihrer Wohnung zu bekommen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Mister „Ich will mich nicht binden“ will zu ihr ziehen? Nein, wollte er nicht. Aber er wollte jederzeit so kommen und gehen wie es ihm passte. Er wollte sie kontrollieren. Er wollte die Kontrolle. Er wollte sie unter Kontrolle haben. Wieder erfasste sie ein ungutes Gefühl. Sie protestierte und machte ihm klar, dass niemand die Schlüssel für ihre Wohnung bekommt. Er verstand die Welt nicht mehr. Die Situation wurde von Woche zu Woche seltsamer. Seltsame Gesprächen, welche Vorteile man durch eine Ehe haben könnte. Überlegungen über die gemeinsame Zukunft. Es änderte sich trotzdem nichts daran, dass er an ihrem gegenwärtigen Leben nicht teilhaben wollte. Manchmal überlegte sie, ob er eventuell bereits eine Frau oder sogar eine Familie hatte. Sie kannte keinen seiner Freunde und er auch niemanden von ihr.
Als es wieder so weit war, ihr Geburtstag stand an inklusive einer großen Geburtstagsfeier mit Freunden und Kollegen, lud sie ihn tatsächlich erneut ein. Weniger weil sie ihm wirklich dabeihaben wollte, vielmehr, weil sie keine Lust hatte wieder mal einen Geburtstag als Single zu verbringen. Denn das war sie, Single. Das was die beiden da hatten, konnte man nicht als Beziehung bezeichnen. Das ist ihr durchaus bewusst und darum ist sie auch nicht sonderlich überrascht als er absagt. Das Gespräch das einige Tage nach der Feier stattfand, hätte sie eigentlich auch nicht überraschen sollen. Tat es aber!
„Also war die Feier gut? Auf den Fotos hast du jedenfalls gut ausgesehen. Du brauchst gar nicht so überrascht zu schauen. Natürlich habe ich mir die Fotos angesehen. Wer waren eigentlich die ganzen Kerle? Komm‘ mir nicht mit Kollegen. Lässt man sich so von Kollegen umarmen? Und der eine Große. Das ist dein bester Freund Tim? Da läuft doch was oder? Ich schwör‘ dir eines, wenn du mich jemals belügst oder betrügst, dann breche ich dir mit einer Eisenstange sämtliche Knochen.“
Da ist sie wieder. Die Gänsehaut. Die Übelkeit. Dieses Gefühl des Erstickens. Sie muss weg. Sie braucht endlich Raum.
Sie sagt wieder nichts. Doch als sie dieses Mal in ihre WG zurückkommt, packt sie ihren Rucksack. Ihren 35 Liter Reiserucksack. In den Tagen darauf plant sie ihre Route, bucht die ersten Flüge und Hotels. Den Rest macht sie unterwegs. Sie interessiert kein „du bist zu wenig tough, zu wenig selbstbewusst“. Sie muss jetzt endlich weg, hier geht sie unter. Wenn sie bleibt, überlebt sie nicht. Und Damit ist noch nicht mal der Verrückte mit der Eisenstange gemeint. Nein, inzwischen weiß sie nicht mehr, wen sie mehr hasst. Ihn, die anderen oder doch sich selbst? Sie weiß noch immer nicht wer sie ist. Sie weiß noch immer nicht was sie will. Aber hierbleiben, dass will sie definitiv nicht.
Maries Flug wird aufgerufen. Sie schnappt ihre Umhängetasche mit all ihren wichtigen Dokumenten, ihr Buch, ihre Kamera, all ihren Mut und macht sich auf in das Abenteuer ihres Lebens.
Nini Tahini
Sie ist Mitte 30 und lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Salzburg. Hauptberuflich jongliert sie üblicherweise mehr mit Zahlen als Worten.
Die Leidenschaft fürs Schreiben war bereits in der Schule da, rückte aber im Zuge der weiteren beruflichen Ausbildungen immer mehr in den Hintergrund. Nach einem turbulenten Jahr 2020 mit Geburt, Kindererziehung und Pandemie, hat sie zu Beginn des Jahres 2021 ihre Leidenschaft fürs schreiben wieder neu entdeckt.
Bisherige Veröffentlichungen:
Literaturzeitschrift DUM – Das ultimative Magazin (Ausgabe Nr. 98) – Kurzgeschichte „Neilich bei da Oma“
Papierfresserchens MTM-Verlag + Herzsprung-Verlag – Anthologie Nassbert der Wannenwichtel Band 2 – Kurzgeschichte „Lea und der Süßkram-Urwald“
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