Klaus Enser-Schlag für #kkl25 „Raum“
Blutrot
Endlich war Jakob Levine mit seiner Arbeit fertig. Er hatte mehrere Stunden lang den Nachlass seiner verstorbenen Schwester gesichtet, da er der einzige noch lebende Verwandte war. Mit Tilda hatte ihn nie viel verbunden. Sie war 12 Jahre älter als er gewesen und hatte das Elternhaus schon früh verlassen. In der Familie wurde nie viel über sie gesprochen und wenn es doch einmal der Fall war, hörte Jakob immer nur wenig Schmeichelhaftes über sie. „Versponnen“, „Traumtänzerin“, oder „der Welt entrückt“, war da zu vernehmen. Jakob setzte sich müde auf das gelbe Sofa seiner Schwester. In einem Karton hatte er ein altes Buch mit Märchen und Sagen gefunden, in welchem er lustlos herumblätterte. Bei der Erzählung „Mondlicht“ standen die handgeschriebenen Worte: „Meine Lieblingserzählung“. Neugierig geworden begann Jakob zu lesen und ließ sich vom Zauber der Geschichte einfangen.
In alten Zeiten, lebte einmal ein sehr reicher und mächtiger König. Sein Schloss galt als das größte auf der ganzen Welt und seine Dienerschaft war kaum zu zählen. Seine Frau, die Königin, galt als die schönste Regentin, die jemals das Licht der Sonne erblickt hatte. Sie schenkte dem König drei Prinzen und lebte, wie ihre Familie, in unvorstellbarem Luxus. Ein ganzes Heer von Hofdamen, Kammerjungfern und Zofen warteten nur darauf, die Wünsche ihrer Herrin augenblicklich zu erfüllen. Doch da die Königin alles bekam, was sie nur wollte, konnte sie sich mit der Zeit über nichts mehr freuen, denn alles war so schrecklich selbstverständlich geworden. Oft spazierte sie durch die prächtigen Räume des Schlosses. Einer war immer noch schöner als der andere und doch schien es der Königin, als bekäme sie in diesen riesigen Zimmern kaum noch Luft, denn die Pracht war kalt und abweisend. Nichts konnte das Herz der Königin mehr erfreuen und so verfiel sie zunehmend in Schwermut. Der König merkte dies wohl und ließ viele Ärzte an den Hof berufen, um das Leiden der Königin zu kurieren. Doch keine Medizin und keine gut gemeinten Ratschläge konnten der Königin ihre Schwermut nehmen. Eine alte und weise Hofdame riet dem verzweifelten König schließlich, er solle doch den glücklichsten Menschen in seinem Reiche suchen, um bei der Königin vorstellig zu werden. Vielleicht könne dies etwas bewirken. So sandte der König seine Boten aus, um den glücklichsten Menschen in seinem Reiche zu suchen. Endlich, nach vielen Wochen, hatten sie ihn gefunden und brachten ihn der Königin. Aber als sie diesen Menschen erblickte, bekam sie einen heftigen Schreck.
Vor ihr stand ein kleinwüchsiger, buckliger Mann, dessen linkes Bein etwas kürzer als das rechte war und er deshalb hinken musste. Er hatte etwas Spitzbübisches im Gesicht. Zugleich umspielten seine kleinen Augen zahlreiche Fältchen, die ihm das Ansehen eines jungenhaften Greises gaben.
„Wie?“, rief die Königin aus. „Du bist der glücklichste Mensch im Reiche meines Mannes? Willst du mich verspotten, du Zwerg?“
Der kleine Mann lächelte und antwortete: „Seht Ihr nur immer auf die äußere Erscheinung, Majestät? Gewiss, ich bin nicht schön und manche beschimpfen mich als Krüppel, aber ich bin zufrieden und glücklich mit meinem Leben“. Und so erzählte der Zwerg seine Geschichte. Schon bei seiner Geburt war er missgestaltet gewesen, sodass ihn seine Eltern in ein Waisenhaus steckten. Dort gab es mehr Prügel als Essen, doch eine der Erzieherinnen hatte Mitleid mit dem Knaben und brachte ihm heimlich Lesen und Schreiben bei. Dadurch eröffnete sich für den Zwerg eine neue Welt. Er dachte sich selbst Geschichten aus, die er seinen Leidensgenossen am Abend im Schlafsaal mit großer Lebhaftigkeit erzählte. Als er 16 Jahre alt war, schloss er sich einer Truppe von Gauklern an, die alle ein leidvolles Schicksal erfahren hatten und zog mit ihnen durch das Land. Hier fand er Freunde und Menschen, die ihn so annahmen, wie er war. Sie musizierten und spielten vor den Leuten kleine Theaterstücke, welche ihnen begeistert applaudierten und auch die Kasse klingeln ließen.
„Ich brauche keinen Luxus und was ich habe, reicht mir zum Leben“, meinte der Zwerg. „Wenn ich abends schlafen gehe, blicke ich in den Sternenhimmel und ich habe das Gefühl, dass die guten Sterne da oben nur für mich leuchten. Morgens weckt mich das Zwitschern der Vögel und ich habe den Eindruck, dass sie nur für mich so schön singen!“ Die Königin war sehr nachdenklich geworden, denn die Worte des Gauklers hatten sie tief bewegt. „Ach, wenn ich doch auch so ein Glück empfinden könnte“, rief sie aus.
„Das könnt Ihr, Majestät“, antwortete der Zwerg und sprach dann: „Geht in einer Vollmondnacht hinaus auf einen Kirchhof und sucht die blutrote Blume „Rouge Sang“. Wenn Ihr den Duft dieser Blume einatmet, werdet Ihr Euer wahres Ich erkennen“. Die Königin tat, wie ihr der Zwerg geheißen hatte. Und tatsächlich fand sie in einer Vollmondnacht die besagte Blume und sog deren betörenden Duft ein. Mit einem Mal fielen Schwermut und Trübsal von der Königin ab. Sie fühlte Hoffnung und Lebensfreude. „Ach, wenn ich doch einmal die Menschen in meinem Reich sehen könnte. Wie sie leben und denken. All das habe ich noch nie erfahren“. Da verwandelte sich die Königin in einen großen, weißen Vogel. Sie flog über die vielen Dächer der Stadt und konnte durch die Herzen der Menschen wie durch offene Fenster hindurch sehen. Sie sah den habgierigen Kaufmann, der seine Kunden betrog. Sie fühlte die Hoffnung im Herzen einer armen Frau, die ihr krankes Kind pflegte und darauf hoffte, dass es bald wieder genesen möge. Die Königin konnte das Mitleid, die Liebe, Freundschaft, aber auch den Schmerz und die Trauer der Menschen nachempfinden. Überwältigt von all diesen Gefühlen verwandelte sie sich wieder zurück in ihre menschliche Gestalt und setzte sich im Schlosspark auf eine Bank. Sie weinte Tränen der Freude. Ihr war, als ob sie die ganze Welt zum ersten Mal mit all ihren Facetten und Gefühlen wahrnehmen konnte. Fast die ganze verbleibende Nacht saß die Königin so auf der Bank und ließ sich von ihren Gefühlen treiben. Noch nie hatte sie sich so lebendig, so glücklich und reich gefühlt.
In den nächsten Tagen staunten der König und sein ganzer Hofstaat über die wunderbare Verwandlung der Königin. Sie ließ einen Raum als Atelier herrichten und mit Staffeleien, Farben und Pinseln ausstatten. Dort begann sie, ihre Gefühle in Bilder auszudrücken. Je mehr sie malte, umso schöner wurden ihre Zeichnungen. Ihre Kunstfertigkeit war bald im ganzen Reich und über die Grenzen hinaus bekannt. Die Königin begegnete den Menschen nun mit offenem Herzen und hatte besonders für die Sorgen der Armen ein offenes Ohr. Sie ließ Armen- und Waisenhäuser bauen und spendete viel Geld für deren Bedürfnisse. Einmal im Jahr aber ließ die gute Königin den Gaukler kommen, der ihr einen so wunderbaren Rat gegeben hatte. Dann sang und spielte der Zwerg vor ihr und machte seine Späße, sodass die Königin Tränen der Freude lachen konnte…
Jakob schloss das Buch. Auch er hatte Tränen in den Augen. Nun wusste er, warum diese Geschichte die Lieblingserzählung seiner Schwester gewesen war. Die Eltern von Jakob und Tilda waren sehr streng gewesen. Für Träume und Fantasien hatte es in seinem Elternhaus nie „Raum“ gegeben. Jakobs Vater war ein pflichtbewusster Beamter gewesen, der sein Leben nach Paragrafen einteilte und sich auch daheim die strenge Befolgung von Regeln vor behielt. Jakob hatte sich gefügt und später auch eine Beamtenlaufbahn angestrebt. Sein Leben verlief zwar in ruhigen, doch vorhersehbaren Bahnen. Er hatte sich selbst keine Räume für Fantasien, Träume und Sehnsüchte gelassen. Tilda hatte das alles wohl nicht ausgehalten und sich lieber als „schwarzes Schaf“ der Familie entwickelt, als sich ihre Träume nehmen zu lassen. Sie war nach Paris gegangen und hatte sich dort als Malerin etabliert. Eines ihrer Bilder stand in der kleinen Dachwohnung, in welchem ihr Bruder nun so traurig dasaß. Er strich zärtlich mit der Hand über das Bild und blickte sich um. Eine kleine Dachwohnung – und doch war sie die ganze Welt für Tilda gewesen. Ihre Räume hatten keine Grenzen gekannt. Auf dem Bild aber war eine schöne Blume zu sehen und gerade, als die Abendsonne durch das Dachfenster auf das Gemälde fiel, erstrahlt die Blume blutrot…

Foto von Pixabay
Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,
Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)
Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,
Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen
in Anthologien.
Mehr zu meiner Arbeit unter:
https://www.klaus-enser-schlag.com/
und
https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag
Interview mit Klaus Enser-Schlag HIER
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