Anna Valdin für #kkl25 „Raum“
Wie die Motte zum Licht
Ich war schon in vielen Räumen.
Räumen, die gefüllt waren mit Leben, mit Lachen und Erinnerungen an längst vergangene Tage.
Doch dieser Raum ist anders.
Er ist leer.
Leer, bis auf eine nackte Glühbirne. Es ist noch eine von den Echten, keine dieser neuartigen LED- Lampen, die bläuliches Licht an die Wände werfen mit ihrem Flackern, so unruhig, wie der Flügelschlag einer Libelle im Frühsommer.
Und so stehe ich da, in diesem leeren Raum, der mir nichts zu erzählen hat.
Er hat nur seine Oberfläche, seine weiß gestrichenen Wände. Wie polierter Kalk sehen sie aus. Grell, fast brennend in den Augen, als wären sie zusätzlich mit ätzend greller Chlorsubstanz getüncht worden.
Nur die Ecken durften dunkel bleiben.
Die Glühbirne hat alle Schatten dorthin vertrieben – in die hintersten Ecken.
Und so kauert die Dunkelheit da, zurückgedrängt und beleidigt, wie ein Kind, das zu Unrecht in die Ecke gestellt wurde.
Ich drehe mich um meine eigene Achse, langsam.
Mein Blick wandert und meine Schuhsolen schleifen über grauen löchrigen Betonboden.
Ich höre ihren Widerhall, höre meinen Atem.
Es ist das Echo eines ungeschliffenen Gebäudes, das erste Aufseufzen eines neugeborenen Raums.
Ich hauche ihm mit meinem Atem Leben ein und meine Bewegungen bringen die abgestandene Luft zum Schwingen.
Mein Blick wandert weiter…und bleibt hängen. An einem bräunlichen Flügelpaar. Winzig und filigran zuckt es an der Decke. Einmal. Zweimal.
Dann erhebt sich das Insekt in die Lüfte.
Mit der Eleganz einer Ballerina, die in Zeitraffer Allegro tanzt, umschwirrt es die Glühbirne.
Es ist eine Motte, fällt mir auf.
Ihre dunkel gemusterten Flügel bringen die Luft in Wallung und wecken die Schatten.
Schatten, die sich nun aus den Ecken erheben und befreit über die Wände zu springen beginnen. Sie tanzen im Takt mit der Motte, stecken ihre dunklen Finger nach ihren Flügelschlägen aus.
Und dann geschieht es.
Er dauert nur eine Millisekunde. Der Zusammenstoß.
Die Motte knallt gegen das glühend heiße Glas, trudelt.
Aber nur ganz kurz.
Dann klebt das Insekt erneut an der Decke. Die Flügel klappen langsam auf und wieder zu.
Es wirkt als würde die Motte atmen.
Diese Bewegungen ihrer Flügel erinnern mich daran, wie sich der Brustkorb eines Menschen hebt und senkt, wenn er schläft.
Im Heben und Senken finden wir Ruhe.
Der Motte scheint es genauso zu gehen. Sie ruht sich aus, erholt sich von dem Aufprall.
Ich beobachte sie und zähle die Sekunden, bis sie wieder fliegt.
Eins, zwei, drei…schon ist sie wieder in der Luft, flattert und trudelt.
Zielstrebig dem Licht entgegen. Immer nur dem Licht.
Es scheint ihr Ideal geworden zu sein, ihr Lebensziel.
Sie kann nicht anderes, als es verwirklichen zu wollen – ihr Orientierungssinn, ihre Liebe zu Licht, zieht sie immer wieder zum glühenden Glas.
Und immer wieder verbrennt sie sich, taumelt durch die Luft, legt Pausen ein und visiert dann prompt wieder die Glühbirne an.
Mit welcher Verzweiflung und Präzision sie das Licht liebt, dass sie ihren eigenen Tod nicht kommen sieht.
Wir Menschen sind doch genauso.
Wie verfolgen unsere Ziele und gehen dabei oft über unsere eigne Leiche. Manchmal sogar wörtlich.
Und dieses kleine Wesen, das nicht mal ein Tausendstel unserer Lebenszeit zur Verfügung hat, zeigt uns wie wir leben; zeigt uns die Wunden, die unsere Selbstverwirklichung auf uns hinterlassen hat; zeigt uns, was wir vergessen und übergangen haben.
Und während ich diesem Gedanken folge, umringt von tanzenden Schatten in einem sonst leeren Raum, fliegt die Motte erneut gegen den heißen Kolben.
Auch diesmal trudelt sie.
Doch diesmal schafft sie es nicht wieder zurück an die Decke.
Der kleine Körper segelt durch die Luft und bleibt schließlich auf dem Betonboden liegen.
Regungslos.
Für immer oder nur für den Moment?
Dann zucken matt die Flügel.
Sie lebt noch.
Ich strecke meine Hand nach dem Lichtschalter aus und wundere mich selbst, wie laut und grotesk meine Bewegungen wirken. So riesenhaft.
Das Licht geht aus.
Die Schatten strömen aus den Ecken, fressen sich gierig durch das grelle Weiß der Wände.
Der Raum wird dunkel.
Ich sehe die Motte nicht mehr, doch ich weiß, dass sie dort auf dem Boden liegt.
Irgendwo.
Halb tot, halb lebendig, unsichtbar in einem dunklen Raum.
Ich beginne die Parallelen zu Schrödingers Katze ziehen.
Schrödingers Motte?
Mit den Händen taste ich mich an den nun grauen Wänden entlang.
Dort war doch die Tür gewesen?
Ich kriege den Metallgriff zu fassen und drücke ihn runter.
Das grelle Licht im Flur blendet mich.
Wie schnell sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Und während die Tür ins Schloss fällt, drehe ich mich noch einmal um, blicke für Sekunden in die Dunkelheit des Raums.
Als ich ihn betrat, war er leer gewesen und leblos.
Jetzt bewahrt er ein Geheimnis und erzählt eine Geschichte.
Die Geschichte einer winzigen Motte, die mit ihren Bewegungen einen gigantischen Raum einnahm und ihm Leben einhauchte.
Jetzt hat auch dieser Raum etwas zu erzählen.
Anna Valdin, 18 Jahre, Schülerin
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