Jürgen Artmann für #kkl25 „Raum“
Acht Stücke
Ich ging den Gang einer Wohnung entlang. Acht Räume gingen links und rechts von ihm ab.
Eins: der Salon. Ein Salon ist kein Wohnzimmer und auch kein Esszimmer. In erster Linie ist man nicht im Salon und man isst auch nicht darin. Man begegnet sich dort, diskutiert, debattiert. Man hält Salon. In meinem Traum sehe ich meine Schreibgruppe dort. Wir diskutieren über Weltpolitik und Weltenschmerz und über ganz persönliche Schmerzen.
Zwei: die Bibliothek. Ein Raum mit ein, zwei Canapés vielleicht. In der Mitte zwei typisch französische Bistrotische, auf denen man einen Kaffee und ein Croissant abstellen kann. An den Wänden nichts als Regale. In den Regalen nichts als Bücher.
Drei: das Schlafzimmer. An der Wand eine schwarz-weiße Fotografie von Ruslan Lobanov, einem Aktfotografen aus der Ukraine. Die junge Frau mit dem Hut und dem nackten Oberkörper schaut immer genau in meine Richtung. Egal, wo ich im Zimmer stehe. Der Fotograf selbst hatte mir den signierten Sonderdruck seines Bildbands per Post gesendet. Schon vor der russischen Invasion hatte das Wochen gedauert. Selbst in meinem Traum bestelle ich deshalb erstmal kein zweites Buch nach.
Vier: das Gästezimmer. Ich male mir aus, wer mich alles besuchen kommt. Mein bester Freund aus dem Studium kommt sicher. Mit ihm werde ich durch die Stadt joggen müssen. Er ist seit Jahren im Runner’s High. Vielleicht besucht mich sogar meine Ehefrau, hat sie gesagt. Unklar, ob sie im Schlafzimmer oder im Gästezimmer übernachten wird.
Fünf: noch ein Gästezimmer. Eigentlich eher ein Notaufnahmezimmer. Nicht für Flüchtlinge, sondern für Kinder. Nicht auszuschließen, dass einmal einer meiner Söhne oder die Stieftochter vorübergehend eine Bleibe brauchen.
Sechs: ein Bad. Mit Fenster, also Tageslicht. Mit Wanne und Dusche. Viel größer und heller als viele Bäder, die ich aus Altbauwohnungen kenne.
Sieben: ein Büro. Hier kann ich einen Schreibtisch platzieren. Vielleicht zwei. Vielleicht arbeitet meine Freundin auch im Homeoffice neben mir.
Acht: Am Ende des Ganges liegt nichts Besonderes, sondern nur die Küche und dahinter die Terrasse. Trotz Tod durch Krieg und Krankheit freue ich mich, dass ich es nicht lasse. Ich kaufe diese Wohnung.
Stück sagen die Franzosen. In Zimmern schläft man nur. Schläft man nicht darin, ist es kein Zimmer, sondern nur ein Stück. Mein neues Ziel besteht aus acht Stücken. In meinem Traum bin ich schon aufgebrochen. Bin eingezogen in eine acht Stücke große Welt. Denn die Welt da draußen wird mir gerade zu groß.
Jürgen Artmann, Jahrgang 1970, wohnt in Strasbourg und in Frankfurt. Er beobachtet und schreibt über Alltägliches. Veröffentlichungen erfolgten in diversen Literaturzeitschriften.
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