Timon Lumière für #kkl26 „Säen und Ernten“
Nachtschattengewächs
«Crocus Vernus» steht in lindgrünen, serifenlosen Buchstaben auf dem Plastiktütchen, das tatenlos in meiner Handfläche liegt.
Verunsichert durchstöbern meine Augen die unzähligen Hinweise, die auf der Rückseite angegeben sind.
Ist das Loch das ich vorsichtig freigeschaufelt habe tief genug für die Krokuszwiebeln die vor mir liegen? Habe ich den richtigen Tag gewählt oder ist die Sonne an diesem kühlen Frühlingsmorgen noch zu schwach? Ist der Tontopf, der erwartungsvoll auf der Terrasse verharrt, breit genug um den Abstand den die Pflanzen zueinander benötigen einzuhalten?
Dutzende Fragen deren gemeinsame Antwort «wird schon okay sein so» lautet. Jedoch zweifle ich schon länger, ob dem wirklich so ist.
Tulpen sind die Lieblingsblumen meiner Mutter. Wenn ich ihre Blüten sehe überkommen mich Erinnerungen an meine Kindheit; manchmal in Form einer warmen Umarmung, manchmal als kalter Schauer, der mir spinnenartig den Rücken hinunter kraucht – je nach Farbe.
Rote Tulpen versetzen mich zurück in unbeschwerte Sommertage als unser Johannisbeerenstrauch im Garten Früchte trug, ein wohliger Geruch von der Feuerstelle ausging und jedes Wort mit einem weißen Schimmer verziert war. Eine Welt voller Hoffnung und Zuversicht, in der die Suche nach einem vier- oder gar fünfblättrigen Kleeblatt das größte Abenteuer war.
Begegne ich gelben Tulpen, umgibt mich ein Gefühl von Trauer und Reue. Ich denke dann an all die Tage die anders verlaufen sind als eigentlich gedacht. Als ich voller Freude auf den verknorzten Apfelbaum kletterte, herunterfiel und direkt im Krankenhaus landete. Die Tage an denen ich selbstbewusst und frohmutig zur Schule gegangen bin, nur um mit gesenktem Kopf, den Tränen nah nach Hause zu kommen.
Rosa Tulpen erinnern mich an Liebe. Verbotene Liebe. Liebe zu demjenigen den ich nicht lieben durfte.
Heute halte ich ein Bündel weißer Tulpen in meiner Hand, die ich sorgfältig in die mit lauwarmem Wasser gefüllte Glasvase auf meiner Kommode stelle. Ich frage mich oft was meine Mutter über mich denkt.
«Stay strong», «believe in yourself» oder «never give up» sind Beispiele für motivierende Sprüche die mir beim alltäglich verpflichtenden Stöbern auf Instagram begegnen. Normalerweise schiebe ich solch simple Aussagen mit einem raschen Swipe nach oben um ihnen aus dem Weg zu gehen, mich gar nicht damit auseinandersetzend ob ich diese Mantren der Selbsthilfe für Schwachsinn halte oder ich nicht stark genug bin mich damit zu konfrontieren.
Auf dem Boden kniend streiche ich mit meiner Hand sanft über die feuchte Erde in die ich eben gerade Ritterspornsamen gepflanzt habe. Ich freue mich auf den Tag an dem die blauen Blütenblätter dieser Blume hervorkommen, nachdem sie sich langsam himmelwärts aus der Erde gekämpft haben.
Der Gedanke von einer anmutigen Pflanze wie dieser umgeben zu sein löst Ungewohntes in mir aus; ein subtiles, jedoch markantes Verlangen danach die Wände einer Festung zu durchbrechen, mich mit Schwert und Schild gegen feuerspeiende Drachen zu stellen und mit einer goldenen Krone über das Land zu meinen Füßen zu herrschen.
Das erste Mal seit langem erlaube ich es mir für einen kurzen Moment in eine Traumwelt zu fallen in der Fantasie und Realität verschmelzen, in der die Bedeutung der Dinge gleichzeitig eindeutig aber auch belanglos ist. Ich erfinde Geschichten, in der ich die Hauptfigur oder auch nur ein stiller Beobachter der sich mit rotem Kugelschreiber ausgerüstet besinnlich Notizen zum Geschehen macht bin.
Eine jauchzende Krähe weckt mich aus meinem Tagtraum auf und lässt mich mit der Frage zurück warum ich nicht öfters in Gedanken versinke. Vielleicht hielt ich es stets für Schwachsinn. Vielleicht war ich nicht stark genug mich damit zu konfrontieren.
Frühlingsgefühle. Seit Jahren äußern sich diese für mich in Form von Angst und Einsamkeit. Dabei kann ich mich noch gut daran erinnern was es bedeutet verliebt zu sein.
Verliebtsein ist Einschlafen auf einem Bett aus Wolken, mit Sicht auf den endlosen Sternenhimmel der sacht vom Mond erhellt wird.
Verliebtsein ist ein wohliger Traum von einer heilen Welt voller Nostalgie dem Hier und Jetzt gegenüber.
Verliebtsein ist von süßem Rosenduft geweckt zu werden während einem die ersten Sonnenstrahlen behutsam über den Rücken streichen.
In Wahrheit mag das Bett aus Wolken vielleicht nur ein morsches Gelieger sein dessen Lattenrost bei jeder Bewegung zusammenbricht. Oder es stellt sich heraus, dass der rosige Duft vom gammligen Kartoffelauflauf der wieder einmal zu lange im Backofen steht ausgeht.
Verliebtsein aber bedeutet, dass all dies keine Rolle spielt.
Besonders zu dieser Jahreszeit vermisse ich dieses Gefühl. Ich vermisse die Fähigkeit meine Umwelt auszublenden und nicht wegen jeder Kleinigkeit die Kontrolle zu verlieren.
Es klingelt. Überrascht schleiche ich zur Eingangstür und äuge durch den Türspion. Niemand. Vorsichtig drücke ich die Klinke runter und atme die mir entgegenkommende kühle Luft der Außenwelt ein. Ein Strauß Rosen. Daneben eine handgeschriebene Karte auf der in roter, krakeliger Schrift mein Name geschrieben steht. Jemand hat an mich gedacht.
„Was dein Leben hat gesät, wird durch der Sonne warmen Strahl gedeihen“, lese ich mir selber leise aus einem Buch mit der Aufschrift „TAROT“ vor. Ich seufze. So weit ist es also schon gekommen. Verzweifelt über meine Unfähigkeit mir die richtigen Fragen zu stellen, kaufte ich mir ein Set Tarotkarten inklusive eines kleinen Ratgebers in der Hoffnung, mit Hilfe der ach so großen Arkana Antworten zu finden.
Die vor mir aufgedeckte Karte wird „die Sonne“ genannt. Auf ihr zu sehen ist ein nackiges Baby das auf einem weißen Schimmel von Sonnenblumen umgeben Richtung Zukunft reitet. Ehrlich gesagt fühlt es sich ziemlich lächerlich an ein bunt bedrucktes Stück Papier nach Rat zu fragen und ich bin mir noch nicht im Klaren darüber was ich mit den uneindeutig eindeutigen Weisheiten die mir auf Seite neunzehn erläutert werden anfangen soll. Eine Verbindung zu meinem inneren Kind sollte ich herstellen, der Zukunft positiv entgegenschauen, Projekte realisieren die ich schon lange vor mich herschiebe und angeblich wird sich meine Gesundheit bald verbessern.
Während ich all das lese ziehen sich meine Mundwinkel langsam nach oben sodass meine Backen leicht kitzeln, mein Zwerchfell beginnt hoch und runter zu schwingen als ob ein kleiner Mann hoch- und runterspringt und ich höre mich ein Geräusch machen, das ich seit viel zu langer Zeit nicht mehr gehört habe. Ich lache. Ich lache wie eine Möve am Horizont, wie eine amateurhaft gespielte Trompete, wie ein kleines Kind das auf seinem weißen Pferd reitet.
Von außen muss ich wohl gerade ein ziemlich absurdes Bild abgeben. Ein zusammengesackter Mensch der sich aus seiner tiefsten Depression erhebt um bei seinem Spielkartenorakel Weisheit zu erlangen, dem in seiner dunkelsten Stunde die Sonne gegenübertritt um ihn anzuleuchten. Ja, das bin ich. Und das wird schon okay so sein.
Ich hole eine Packung Sonnenblumenkerne, schütte sie in eine Porzellanschüssel und lese amüsiert meine Lektüre weiter.
Ich sitze draußen und begutachte meinen kleinen Garten. In der letzten Zeit haben sich so einige Pflanzen angesammelt, wodurch sich meine Umgebung unheimlich bereichernd anfühlt. Der robuste Krokus, die unscheinbaren Veilchen, ungezähmter Löwenzahn, eine krumme Gurke, hell leuchtende Sonnenblumen, zarte Rosen, angeknabberter Salat, Akelei von dem ich gar nicht weiß woher er kam, abenteuerlicher Klee und der Rittersporn der über allem thront.
Vor mir ist eine Auswahl von verschiedenen Grün die unterschiedlicher nicht sein könnten, gemeinsam jedoch ein überwältigend schönes Bild ergeben das absolut einzigartig ist.
Plötzlich schießt mir eine Erinnerung in den Kopf. Eine Pflanze die ich komplett vergessen habe. Aufgewühlt renne ich zum schattigsten Plätzchen in der äußersten Ecke meines Gartens, vorbei an bunten Blütenblättern und über tiefbraune Erde. Und siehe da. Kälte und Dunkelheit hat sie getrotzt. Aus einem Häufchen Elend von Boden ist sie gewachsen. Vor langer Zeit gesetzt und für lange Zeit vergessen.
In intensivem, hellen Rot strahlt sie mich an: eine Tomate.

Geboren in den verworrenen Tiefen der Schweizer Alpen war Musik schon immer Timon Lumières Licht im Dunkel. Gesang, Klavierspiel und letztendlich auch das Schreiben von eigenen Liedern und Texten ließen ihn in die unergründlich faszinierende Welt der Klänge, Melodien und des Geschichtenerzählens eintauchen. Mit seinen Songs malt er Bilder, die häufig von der Schönheit der Natur, den Abgründen des menschlichen Verstandes und der Mystik des Lebens geprägt sind. Menschen an seiner Liebe zur Kunst teilhaben zu lassen und mit ihnen in seine Gedankenwelt einzutauchen, um für einen Moment gemeinsam zu träumen, ist dabei stets sein Bestreben.
Seit 2020 lässt sich Timon Lumière von der kreativen Energie Berlins inspirieren, tritt regelmäßig auf und arbeitet an diversen Projekten. Seine erste Single „before i knew you“ wird am 17. März veröffentlicht.
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