Christian Knieps für #kkl26 „Säen und Enten“
Ertrinkendes Europa
Schweißgebadet wälzt sich Carl Gustav Jung in seinem Bett hin und her, schreit innerlich nach Erlösung, krampft in seinem Wesen, kämpft mit aller Macht gegen sich selbst an und kann am Ende diesen Kampf nicht gewinnen. Das weiß er, das weiß sein Unterbewusstsein, und das weiß er auch in seiner Traumwelt, die er dennoch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel bekämpfen, verfluchen, ja, gar zerstören will. C. G. Jung will seine Träume zerstören, die seit der von ihm eingeleiteten und streng forcierten Trennung von seinem geistigen Übervater Sigmund Freud immer gewalttätiger werden, immer härter, immer bösartiger, Träume, die von Zerstörung, Vernichtung, Ausrottung, Rache und Folter geprägt sind. Die Grundfarbe ist blutrot. Nasstriefend laufen die Traumgestalten in ihrer erdachten Umgebung umher, und nicht selten nimmt er Toni, dann Emma, dann wieder mal beide zusammen und ist beinahe schon an seinem sexuellen Höhepunkt, als etwas Rotes, Festflüssiges auf ihn zurollt, eine Welle aus Blut, und C. G. Jung versteht nicht nur, dass er bei seiner Theorie im Recht ist, die ihn von Freud entfernt hat, sondern er versteht auch, dass seine Libido, die freie schweizerische Liebe, ein Symbol für die Freiheit der Europäer ist, die alsbald in einem Meer aus karminrotem Blut versinken wird, hellem, pulsierendem Blut – wie aus dem kämpfenden Körper eines getroffenen Soldaten.
Doch dieser Blutstrom, der Europa in Zukunft ertrinken lassen wird, ist nicht das einzige deutliche Anzeichen für eine sich verändernde Zeit. Auch die menschlichen Bindungen werden in der nächsten Zeit hart auf die Probe gestellt werden, so prophezeit ihm sein Unterbewusstsein, und im Vorgriff auf einen Kongress, der im September 1913 stattfinden wird, ahnt C. G. Jung, dass das Leben, das er in geistiger Verbindung mit seinem Mentor Sigmund Freud die letzten Jahre verbracht hat, endgültig aus und vorbei ist – die Trennung als einzige Möglichkeit einer Befreiung seines Geistes von den Fesseln seines Lehrers. Denn dieser hat nicht in allen Punkten seiner Psychoanalyse recht, und das weiß C. G. Jung, und eben jenes Wissen ist es, das ihn zu der Annahme führt, dass eine Entzweiung unausweichlich ist, denn die Optionen, die er besitzt – schweigen und sich selbst erniedrigen oder etwas sagen und den Bruch heraufbeschwören – sind beide nicht von der Qualität von Entscheidungen, wie sie Menschen gerne und mit einem beruhigten Herzen treffen wollen.
C. G. Jungs Alpträume sind die Reproduktion dieser bevorstehenden Entscheidung, die er zwar instinktiv mit jedem Brief, mit jedem veröffentlichten Text, mit jeder Vorlesung an der Universität trifft, aber offen kann er mit dem ebenfalls körperlich und geistig schwächelnden Freud nicht brechen, nicht nachdem dieser in München am Ende des vorigen Jahres vor den Augen Jungs zusammengebrochen war. In seinem Traum sieht Jung sich vor einem Altar niederkniend, direkt unterhalb der gestrengen Augen seines geistigen Vaters, den Kopf gesenkt, in tiefer Andacht. Doch als er seinen Kopf erhebt und dem geistigen Vater entgegenblickt, bemerkt er dessen Augen, die wie so manche Madonnenstatuen zu weinen beginnen, und als C.G. Jung in seiner Verwunderung bemerkt, dass es Blutstränen sind, weiß er, dass er schuldig ist – und wie sehr ihn diese Schuld quält, bis tief in die Träume seiner Welt hinein, erschüttert bis ins Mark – da überkommt ihn das Gefühl der Einsamkeit, der Unzufriedenheit, und diese Welle der Angst, gepaart mit einer gegen sich selbst gerichteten Wut, gebiert einen wallenden Zorn, der ihn von den Stufen vor dem Altar aufstehen und zu seinem geistigen Vater aufrecken lässt, ehe er diesem mit einer Lanze nicht nur in die Seite sticht, sondern in alle Körperteile, die dazu auserkoren sind, die Libido zu beherbergen. Blutschwalle treten aus den Wunden, überfluten die Kirche, überfluten die Nachbarschaft, überfluten das Reich und schließlich Europa, während C. G. Jung beim Ausbrechen der Flut tapfer auf dem Boden vor dem Altar niedersinkt, allein, um Vergebung bittend, dass er keine andere Wahl hatte, denn fehlerhaftes Schweigen wöge für ihn schwerer als jeder Verrat, da es ein Verrat an einem selbst wäre – und welcher Mensch könnte schon Freund eines ertrinkenden Europas sein, wenn er sich selbst kein Freund mehr sein kann?
Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet als Abteilungsleiter bei DHL Express in Bonn und schreibt Theaterstücke (veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, Plausus Theaterverlag, meintheaterverlag und Ostfriesischer Theaterverlag), Kurzgeschichten (in einigen Zeitschriften wie Dreischneuß, experimenta, Litges… veröffentlicht) und Romane.
Veröffentlichungen
- 100 für 1. Komödie. Veröffentlicht im Ostfriesischen Theaterverlag. 2016.
- 1914 | 2014 | 2114. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in: The Transnational Magazine Vol. 4, 2014.
- Adam und Eva oder Die Frage, wie die Menschheit entstanden ist. Komödie.
- Veröffentlicht im mein-theaterverlag, 2012. Uraufführung 2011.
- Alleinerziehende sucht keinen Mann. Komödie. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2013.
- Alter Landadel. Seniorentheater. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2017.
- Amöben. Aphorismus. Veröffentlicht in Im Getriebe wird das Sandkorn zur Macht. 2014.
- Anna und das Wissen der Welt. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in: Das Leben in s/w. 2011.
- Auerbachs Müller. Historisches Theaterstück. Veröffentlicht im Ostfriesischen
- Theaterverlag, 2017.
- Ausgebremst. Drama. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2019.
- Bartleby, der Lohnschreiber. Eine Adaption. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2012.
- Bestimmung. Drama. Veröffentlicht im mein-theaterverlag. 2016.
- Braucht mich die Welt? Veröffentlicht im Literaturautomat. 2013.
- Das Haus auf der Anhöhe. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Haller Taschenbuch:
- Verlassene Orte. 2013.
- Das Leben eines anderen. Drama. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2017.
- Das Leben in den Untiefen der Gesellschaft. Theaterstück. Veröffentlicht im meintheaterverlag, 2015.
- Das sonore Piepen. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in LitGes Nr. 49. 2012
- Der Damenclub. Schauspiel. Veröffentlicht im mein-theaterverlag, 2015.
- Der kleine Diktator. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2015.
- Der letzte Weg. Das Ende einer Reise. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2016.
- Der Makel des Bösen. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2020.
- Der Strandurlaub. Schauspiel in 5 Bildern. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2012.
- Die alte Dame. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in LitGes Nr. 52. 2013.
- Die Revolution des Pöbels. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in LitGes Nr. 51. 2013.
- Die Ruhe vor dem Sturm. Kriminalstück. Veröffentlicht im Plausus Theaterverlag. 2016.
- Ein einsamer Knecht. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2016.
- Ein römisches Leben. Tragödie in Blankvers. Veröffentlicht im mein-theaterverlag, 2012.
- Einlass. Eine himmlische Komödie in 3 Akten. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2012.
- Elektra in Phokis. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2017. Elektras Monolog. Auszug aus Elektra in Phokis. Veröffentlicht in Matrix Nr. 4/2013.
- Ertrinkendes Europa. Kurzgeschichte. Veröffentlicht im Dichtungsring Nr. 42, 2013.
- Experimentelle Fotos. Veröffentlicht in eXperimenta 02/2015. Feine Linien.
- Kurzgeschichte. Veröffentlicht in eXperimenta. 10/2013.
- Gon. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in eXperimenta 01/2014.
- Gossenkrone. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2016.
- Heinrich Vier. Ein unhistorisches Historienspiel in 5 Bildern. Veröffentlicht im adspectaTheaterverlag, 2014.
- Krise. Beziehungsdrama. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2013.
- Läuterung. Eine fiktive Dokumentation. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2012. Macht und Funktion. Historisches Drama. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, 2012.
- Margret. Veröffentlicht im adspecta Theaterverlag. 2016.
- Metamorphose / der Gewalt. Veröffentlicht in Gewaltige Metamorphose. 2014
- Spiegelbild. Kurzgeschichte. Veröffentlicht in eXperimenta 12/2015.
- Süden. Veröffentlicht im Ostfriesischen Theaterverlag. 2017.
- Unter Verdacht. Schauspiel. Veröffentlicht im mein-theaterverlag, 2012.
- Unternehmen G. Komödie. Veröffentlicht im Ostfriesischen Theaterverlag, 2019.
- Visionen. Veröffentlicht im Ostfriesischen Theaterverlag. 2016.
- Vuda Vude. Veröffentlicht im Ostfriesischen Theaterverlag. 2016
Über #kkl HIER
Sehr schön
LikeLike