Ingrid Maestrati für #kkl26 „Säen und Ernten“
Überlegungen zum Flötenspiel
„Und freudig geht der Ackermann zur Arbeit auf das Feld, in langen Zügen schreitet er dem Pfluge flötend nach.“[1]
Wir stolpern über Gegensätze: Pflügen, eine Knochenarbeit und Flöte spielen? Entweder das Eine oder andere, aber nicht beide zusammen.
„Wer hat das erfunden, der Vergil?“ fragt sich Martin beim Lesen alter Texte. „Bukolisch“, fällt ihm ein, „das war bereits kein Naturzustand mehr, der Pflug und die Flöte wurden erfunden“. Allein für sich genommen, sind das nützliche Gegenstände, aber sie passen nicht zusammen. „Und dann kommt der Vergil, nimmt sich künstlerische Rechte heraus und stellt sie zusammen dar“.
Sein Freund Hans sitzt neben ihm in der Bibliothek. Er spürt die Aufregung von Martin und hat dessen halblautes Selbstgespräch mitgehört. „Vergil träumt einen typischen Menschheitstraum: beherrschte Natur. Die Kultur zwingt der Natur neue Bedeutungen auf – über Technik und Kunst, die beide früher unter der gemeinsamen Bezeichnung ´techné´ liefen.“
„Daher die Aufregung Platons, der die Künstler aus der Republik verbannen wollte. Warum einen Gegenstand anders darstellen, als wir ihn sehen?“ Martin ahnt den Zündstoff dahinter: der harmonische Kosmos hat ausgedient.
Martin reicht das Buch hinüber zu Hans. Ein Bild vom flötenden Bauer ist darin, mit seinem Pflug – eine Art Schneidezahn, vorne nach unten gebogen, mit zwei Handgriffen. Er wird von einem Stier gezogen. „Ein Fortschritt“, sagt Hans, „das ist besser als den Acker selber umzugraben. Aber wozu dienen die Handgriffe, doch nicht etwa zum Flöten? Und wer hat denn eigentlich die Flöte erfunden?“, ein anderer Nichtsnutz – zu faul, um selber zu singen?“
Kurze Stille. Hans blättert im Buch und Martin hängt seinen Gedanken nach. „Der Bauer als Künstler? Er wendet das Werkzeug an, aber er hat es nicht erfunden. Will er über sich hinaus und Dinge denken, die nicht zu ihm passen oder ihm nicht offenstehen?“ Das war der Zündstoff.
Martin macht Notizen: „Dieser verrückte Vergil erfindet Stolpersteine als Basis einer Welt von Dingen, die nicht zusammenpassen – das Gegenteil von Platon.“ Er spürt, dass er neuen Gedanken auf der Spur ist und fragt sich, ob die Menschen sich damals Gedanken gemacht haben über diese neue Welt. Dann fügt er eine weitere Notiz hinzu: „Kann man gedankenlos in eine Welt hineinwachsen, wie der Bauer und in ihr weiterleben – ohne zu zweifeln?“
Hans hat inzwischen im Buch von Vergil weitergeblättert und findet ein neues Pflugmodell: eine Art Egge mit tiefen Krallen nach unten und wieder gezogen von einem Stier. Der Bauer steht darauf, damit die Krallen tiefer greifen. Er hat die Hände frei zum Flöten. Aber das Gleichgewicht! Er zeigt Martin das Bild. „Bei Unebenheiten oder Steinen im Acker kippt die Egge und er muss absteigen, die Egge aufrichten und die Steine aus dem Weg räumen“.
Martin hat sich voll in diese Szene versetzt und ahmt jetzt den Bauern nach, mit einer tieferen Stimme. „Immer diese dämlichen Sachzwänge“, lässt er ihn sagen.
„Flötenspielen statt ackern“, schlägt Hans vor.
„Kannst du nicht“, sagt Martin jetzt mit seiner eigenen Stimme, „wir nehmen uns ständig Freiheiten heraus, wenn wir erfinden. Aber dann müssen wir sie anwenden und stoßen an Grenzen.“ Er krümmt sich vor Lachen. Im Geiste sieht er den verdutzten Bauern und Vergil, der schreibt und malt. „Welttheater“, prustet er.
„Was sind Sachzwänge?“, fragt Hans, „fallen wir aus der Natur heraus bei unseren Gedankensprüngen?“
Sofort antwortet der Bauer, überzeugend dargestellt in Stimme und Mimik von Martin: „Wir können im Winter nicht ernten, es wächst nichts. Das ist ein Sachzwang, aber die Techniker haben keine Ahnung von Jahreszeiten, sie können nur Pflüge erfinden, sonst nichts“.
„Und die Künstler?“, fragt Hans schüchtern.
„Sie fantasieren ins Blaue“, fügt der Bauer hinzu, „weil sie von Säen und Ernten keine Ahnung haben“.
Martin spricht jetzt wieder mit seiner eigenen Stimme. „Aber wer hat denn einen Überblick über die Welt, doch nicht etwa der pflügende Bauer?“
„Flöte spielen ist doch viel mehr als nur Herumpiepsen auf einem ausgehölten Stück Holz,“ ereifert sich Hans. „Das muss man üben, da müssen Melodien erfunden werden und Anlässe, wo gespielt wird“.
Martin ist einverstanden. „Musik ja, aber weit weg vom Acker. Vergil hat Unrecht: Kunst, Technik und Ackerbau sind drei Paar Stiefel.“
„Früher zog ich nur eine Furche mit dem Pflug in der Hand“, lässt der Bauer verlauten, „jetzt ziehe ich drei mit der Egge, also habe ich weniger Arbeit und Zeit zum Flötenspiel – das dachte ich mir. Aber jetzt habe ich eine Tierherde: Die Kühe müssen gemolken werden, aus Milch wird Käse und die Pflüge werden von zwei Stieren gezogen.“
Martin lehnt sich zurück im Sessel. Von weitem droht Platon mit dem Zeigefinger. „Die Ideen sind ewig“, scheint er zu sagen. „Nein“, antwortet Martin, „nicht alle Ideen sind ewig, das Hebelgesetz ja, die alten Götter nein, obwohl früher alle an sie geglaubt haben“.[2]
Hans nickt. Beide wissen, dass auch Theorien nie ewig waren. „Nur deshalb kann Entwicklung dynamisch werden, weil wir Ideen weiterentwickeln oder fallen lassen und durch neue ersetzen“, fügt er hinzu.
Jetzt drängt sich schon wieder der Bauer auf. Martin macht ein ernstes Gesicht, als er ihn nachahmt. „Oh, war das lustig, als Prometheus das Feuer stahl und dann haben wir gelernt, es selber zu entfachen“…
„Und Zeus ging baden“, fügt Hans lachend hinzu.
Kurze Stille. „Was ist freies Schaffen?“, fragt Martin. „Eine kreative Frechheit, das Aussteigen aus einer gegebenen Welt und dann das darüber Hinausdenken. Aber ist das alles?“
„Sobald wir handeln, verändern wir die Welt, aber zwangslos wird sie nicht. Wir haben aus Naturzwängen Kulturzwänge gemacht.“ Hans ist ganz aufgeregt bei diesem Gedanken. „Und geradlinig war diese Entwicklung auch nicht.“
„Solange wir nur eine oder drei Ackerfurchen aufs Mal gezogen haben, konnten wir die Erde nicht vernichten“. Der Bauer sagt es ganz leise, „aber schon damals waren wir abends so müde, dass an Flötenspiel nicht mehr zu denken war.“
War die Entwicklungsdynamik aus dem Ruder gelaufen?
Zwei Zivilisationshelden hatten eine Lawine losgetreten, beide wurden an Felsen geschmiedet. Prometheus, der verräterische Schöpfer auf eigene Faust und Amirani[3], der einfach zu tüchtig war. Erst hatte er die ganze Gegend leergejagt, bevor er Gott sein wollte.
„Tja, im Kaukasus haben sie die Gefahr der übergroßen Tüchtigkeit erkannt“, stellt Martin fest. „Heute sind die Pfluglinien kerzengerade, aber der Boden ist sauer und ausgelaugt. Mehrfachernten, Düngemittel und Pestizide haben ihren Dienst getan und uns ärmer gemacht, jetzt stehen uns Hungersnöte bevor.“
Hans gibt ihm recht. „Wir haben die Erde beherrschen wollen und jetzt rächt sie sich. Wir ernten, was wir uns selber eingebrockt haben. Aus Bauern sind Unternehmer geworden und Flötenspieler haben – wie einst die musizierenden Grillen gegen die Ameisen – nur dann eine Überlebenschance, solange wir reich genug sind, uns Kunst leisten zu können“.
Und jetzt ging Martin auf, warum Vergil so wichtig war. „Mit seiner Ungereimtheit vom flötenden Bauer reißt er uns aus akzeptierten Zwängen heraus. Wir haben viel zu lange mitgespielt. Und jetzt müssen wir beherzt denken, Unpassendem nicht aus dem Weg gehen – spielen, ausprobieren und Mensch bleiben, mitten in dieser anonymen Technik“.
[1] Text aus: Die Jahreszeiten von Joseph Haydn
[2] W. Heisenberg, gesammelte Werke, Piper, FFM 1984, vol. I, p, 230
[3] G. Charachidzé: Promethée et le Caucase, Flammarion Paris, 1986, pp 224-228
Ingrid Maestrati

Jahrgang 1945. Mehrere Lebensphasen: Anfangs ausgedehnte Reisen als Schiffsoffizier und Auslandsaufenthalte in Myanmar und Paris über das Auswärtige Amt. Dann Studium und Arbeit als Psychologin in Paris, in der Industrie und bei Gerichten. Nach meiner Pensionierung: ein französisches Sachbuch in Arbeit und Kurzgeschichten. Mein Buch: UNTERWEGS – Erinnerungen, ISBN 978-3-03883-084-9, 2019
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