Heinrich Dörflinger für #kkl26 „Säen und Ernten“
Ein Teil der Erde
Die Erde hat noch etwas Rohes, Nacktes nach dem langen Winter, und sie können erst spät mit dem Pflügen beginnen. Lotte geht schwer im Geschirr und ihr schweißnasses Fell glänzt in der Sonne. Theo schreitet breitbeinig hinter dem Pflug her. Die Pflugschar schimmert in der Sonne und gleitet wie ein glänzender Fisch durch die Erde. Jan sammelt Steine vom Acker und wirft sie an den Waldrand, wo sich mit der Zeit Haufen gebildet haben. Auf einmal wird der Himmel weiß wie Papier, und dann zieht ein Hagelschauer über den Wald und die Felder hinweg. Jan will unter eine Birke flüchten, als er einen winzigen Haufen Streu bemerkt, den der Pflug hochgewirbelt hat. Als er näher herangeht, entdeckt er ein Mäusebaby in einem wolligen Nest.
Die Mutter läuft pfeifend umher, vom Nest weg und wieder zurück. „Was ist? Die Biester fressen uns alles weg!“, schimpft Theo. Er geht zum Feldrain und kommt mit einen Spaten zurück.
Jan bückt sich tief hinab und kann drei Mäusebabys erkennen. Einen Augenblick lang wünscht er sich, dass er das Nest freilegen, an sich drücken und es an einem sicheren Platz verstecken könnte. Er zupft seinen Vater am Ärmel und will ihn vom Mäusenest wegziehen, aber irgendwie sieht es blöd aus, so als streichelte er seinen Arm. „Rühr sie nicht an!“, sagt er und stellt sich schützend vor die Mäuse. Er kämpft mit den Tränen. Sein Vater sieht ihn überrascht an, dann betten sie das Nest in die Erde, auf die sich eine Schicht Hagelkörner gelegt hat.
Einige Wochen vergehen. Jan füllt Hafer in die Säwanne. Theo hängt sie sich um, geht los, und die nackten Zehen drücken sich in die Erde. In weitem Bogen streut er Körner aus; sie leuchten im Licht und fallen auf den Boden. Jan streckt die Arme der Sonne entgegen. Er malt sich aus, wie es regnet, wie der Hafer keimt, aus der dunklen Erde heraus kommt und in den Himmel wächst. Dann läuft er zur krummen Furche, in deren Nähe sie das Mäusenest gebettet haben. Er hofft, dass alle Mäusebabys überlebt haben und zu munteren Mäusen heranwachsen.
Im Sommer fahren Theo, Johanna und Jan mit Lotte und dem Ackerwagen zum Randmoor. Es ist ein schöner, ein sonniger, aber kein heißer Tag, weil ein leichter Wind weht. Das Haferfeld befindet sich hinter einem Wall, auf dem drei Birken wachsen. Es liegt da wie ein aufgewühltes gelbes Meer mit dunkelgrünen Stellen, an denen das Getreide nicht ausgereift ist. Bald darauf kommen Jupp, Walli und Marie mit dem Traktor und dem Mähbinder. Nachdem sie eine Tasse Tee getrunken haben, beginnen sie mit dem Mähen. Die Messer des Mähbinders schneiden das Getreide und auf dem Bindetisch wird es gesammelt und mit Garn zusammengebunden. Zwei Stecken werfen die fertigen Garben aufs Feld. Johanna und Walli stellen sie in Hocken zusammen, damit sie in den nächsten Wochen trocknen.
„Rechenheft raus“, sagt Marie „Hü!“
„Ich bin doch kein Pferd“, sagt Jan und schaut sich die Hausaufgaben an. „Oh je, die sind nix fürs Feld, das seh ich gleich. Da musste nämlich rechnen und schreiben wie ’n Blöder.“
Marie blättert mit erdigen Fingern in seinem Heft.
„Mach das bloß nicht dreckig, sonst motzt die Honig.“
„Ach die Honig. Von den paar Erdkrümeln wird sie wohl nicht gleich ohnmächtig werden. Is‘ ja keine Kacke!“
‚Sie lacht richtig nett‘, denkt Jan. ‚Sätze, in denen Kacke vorkommt, mag sie besonders, und sie kann sich kaum wieder einkriegen.‘ Auf einmal herrscht Ruhe auf dem Moorfeld, nur die Haspel des Mähbinders klappert noch eine Weile. Marie stupst Jan an, sie gehen zum Binder und rupfen büschelweise Kamille und Grünzeug von der Schnecke und der Haspel.
Nachdem die Erwachsenen die Garben in Hocken zusammengestellt haben, versammeln sich alle am Feldrain unter einer Birke. Die Erbensuppe und das frische Bauernbrot schmecken ausgezeichnet, und alle langen kräftig zu. Danach gibt‘s Tee und Kuchen. Walli wischt sich mit einem großen Taschentuch Schweiß aus dem Gesicht. „Am liebsten würde ich das Moorfeld verkaufen.“, sagt Theo. „Die Birken werfen Schatten, darunter wächst nix. Und so viel Kamille!“
Jupp stimmt zu: „Wird wohl wenig bei rumkommen beim Dreschen. Zu viele halb reife Körner.“ Walli klagt über die Disteln im Getreide. Sie streicht Salbe über die geschwollenen Hände und Arme und reicht Johanna die Tube.
Während sich die Erwachsenen ausruhen, spielen die Kinder Verstecken. „Ich fang an zu suchen“, sagt Marie. Sie schließt die Augen und beginnt zu zählen. Jan läuft los und sucht sich eine niedrige Hocke. Als ihn eine Ähre im Nacken kitzelt, muss er niesen. Bald darauf hat sie sein Versteck gefunden. Dann läuft sie los, wirf den Kopf hin und her wie ein galoppierendes Pferd, als wollte sie ihr wehendes Haar spüren. Jan muss lange suchen, schließlich entdeckt er eine schiefe Hocke. Er nimmt eine Garbe weg, Sonnenstrahlen fallen in das dunkle Versteck und Maries verschwitztes Gesicht erscheint. Sie lacht und ihre Sommersprossen scheinen zu hüpfen. Danach laufen sie barfuß über das Stoppelfeld. „Du musst schlurfen wie mit Filzpantoffeln“, sagt Marie. „Dann piktst es nicht so.“ Jan zeigt ihr die Stelle, wo wenig Hafer gewachsen ist, und erzählt von dem Mäusenest. Sie hört ruhig ihm zu, schließlich sagt sie. „Die Mäuse sind bestimmt weg, sie haben sich längst neue Höhlen gegraben.“
Im Winter helfen sich die Bauern gegenseitig beim Dreschen, in Theos Scheune fangen sie an. An das ununterbrochene Brummen der Dreschtrommel hat sich Jan gewöhnt, nicht aber an den Staub. Die Männer und Frauen haben ihre Kittel und Blusen am Hals mit einem Gummiband geschlossen. Bald sind sie mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Jan und Fritz fahren die Streu mit Schubkarren in einen Holzschuppen, wenigstens dort staubt es nicht.
Gegen vier Uhr wirft Theo eine Garbe falsch herum in den Drescher, damit er schnell zum Stillstand kommt. Das ist das Zeichen für die Vesper. Alle schütteln den Staub von den Haaren und der Kleidung, stellen sich in der Waschküche in eine Reihe, um sich zu waschen. Dann setzen sie sich an einen langen Tisch auf der Deele, den Marie und Walli gedeckt haben.
Fritz isst drei Teller Suppe, vor allem mag er die Klößchen, die darin schwimmen. „Du frisst ja wie ein Scheunendrescher!“, neckt Marie ihren Bruder. Jan schmunzelt und sagt: „Mutter kann wirklich gut kochen.“
Alle genießen das Essen und das gesellige Beisammensein, dann arbeiten sie weiter bis um acht Uhr abends.
Am anderen Tag gehen die Kinder nach der Schule zum nächsten Hof und helfen den Bauern. Das wiederholt sich so lange, bis alle Garben gedroschen sind.
Heinrich Dörflinger wurde 1956 im Emsland geboren und lebt in Lörrach. Die Mitarbeit auf dem elterlichen Bauernhof hat die Liebe zur Natur und den Tieren geprägt. In Münster und Freiburg studierte er Religionswissenschaft, Völkerkunde und Politikwissenschaft, was einen einjährigen Studienaufenthalt in Mexiko einschloss.
Einige Publikationen in Anthologien.
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