Martin A. Völker für #kkl26 „Säen und Ernten“
Gemach, gemach
Den erfolgreichen Menschen gehört die Welt, den erfolglosen nicht einmal ein kleiner Teil davon. Was ist das nur für eine Vorstellung? Die Erfolgreichen, die Sieger sind die Welt, während die Erfolglosen und Verlierer nicht von dieser Welt sind. Sie leben als Schatten in einer Schattenwelt, wenn du ein solches Leben überhaupt als Leben zu bezeichnen imstande bist. Leider ist dies keine bloße Vorstellung. Dir ist bewusst, wie eine Vorstellung die Dingzusammenhänge um uns herum prägt und zur Realität werden kann. Wer sich die Vorstellung zu erklären vermag, der verändert die Realität. Da du dir etwas vorstellst und ich mir, wie auch Hinz und Kunz es tun, hat jede:r Anteil daran, die Realität so einzurichten, wie es ihr und ihm, wie es dir, mir und uns gefällt. Mir gefällt die Einteilung in Erfolgreiche und Erfolglose nicht im Geringsten. Wie ist es mit dir? Diese Einteilung besagt, dass jene, die sich kümmern und redlich bemühen, den verdienten Lohn erhalten. Was daran falsch ist? Jeder Tag bringt eine andere Erkenntnis ans Licht, dass nämlich oft die, die sich abmühen und alle Kräfte aufwenden, um den erhofften Lohn betrogen werden. Es geht hier allerdings nicht um richtig oder falsch, sondern um würdig oder unwürdig, um menschenwürdig oder eben menschenunwürdig. Wenn einer, der sich redlich bemüht, erfolgreich ist, ist einer, der erfolglos bleibt, ein unredlicher Jemand, der völlig zu Recht zu einem Niemand wird. Redlich sind die Erfolgreichen, Erfolg ist der gerechte Lohn der Redlichen. Den Erfolglosen, den Verlierern bleibt der Unrechtsstatus. Kann Entwürdigung weiter voranschreiten? Dass wir Menschen einteilen in die Träger:innen des redlichen Erfolgs und des unredlichen Misserfolgs, folgt der Vorstellung vom Sämann, dem eine gute Ernte beschieden sein wird. Folge keiner Vorstellung, lasse keine Vorstellung zur Realität werden, in der Männer mit dem Wohl der Welt verbunden sind, weil es sich meistens um ihr eigenes Wohl handelt. Samen ausbringen und ernten, das können und müssen und sollen schließlich auch andere. Das eigentliche Problem reicht indes viel tiefer. Isaac Newton hat es, hier aber eigenen Beweggründen folgend, als Gesetz der Aktion und Reaktion beschrieben. Jede Aktion oder Kraft erzeugt eine Reaktion, eine zurückwirkende Gegenkraft von gleicher Größe. Du musst keine Ahnung von Physik haben, um zu erkennen, dass diese Wechselwirkung, die wir zu einem unumstößlichen, alternativlosen Gesetz in unserem Leben erklärt haben, jedem Krieg zugrunde liegt. Schlage, und du wirst geschlagen; wirst du geschlagen, schlage zurück, getrieben und befeuert von der trügerischen Idee, dass eine Erhöhung der Kraft den Gegenschlag vereiteln kann. So wird am Ende alles zerschlagen sein. Im Alltag befällt dich die gedankliche Qualvorstellung von Aktion und Reaktion, wenn du eine E-Mail schreibst und abschickst und dich wunderst, dass du fünf Minuten später noch keine Antwort erhalten hast. Sofort eine Erinnerungsmail hinterherschicken? Zusätzlich anrufen? Wer die Saat ausbringt und die Ernte erwartet, der wird leicht ungnädig, wird zum Unmenschen. Kultiviere die Vorstellung, lasse die Vorstellung zur Realität werden, dass es neben Aktion und Reaktion einen dritten Bereich gibt, der die Zeit zwischen Aussaat und Ernte umfasst, der uns die Tugend des Abwartens offenbart. Das Abwarten ist keineswegs Untätigkeit, es umfasst die teilnehmende Beobachtung der Saat, die Pflege der Keimlinge, das Vertreiben der Störenfriede, die Vorbereitung der Ernte, egal wie üppig oder mager sie schließlich ausfällt. Der starke Wille, vor der Zeit zu ernten, schafft den fruchtbaren Acker in eine unwirtliche, sterbende Landschaft um. Wir haben das Warten nie gelernt, aber wir werden es lernen müssen, um dem Menschen das Menschliche zu retten, um der Welt die Vielfalt des Lebendigen zu erhalten. Gemach, gemach: Lasse den Dingen ihre Zeit, in der auch du wachsen wirst, indem du in den Gemächern deiner inneren Existenz still an den guten und schönen Vorstellungen arbeitest, die vielleicht lange nach dir eine weniger aktionistische und reaktionäre Realität erzeugen werden.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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