Marianne Apfelstedt für #kkl26 „Säen und Ernten“
Hände
„Red, sind Sie sicher, dass Sie allein zurechtkommen?“, fragte mich Dr. Berntsen. Als sie meine gefurchte Stirn bemerkte, beschwichtigte sie: „OK. Auf jeden Fall ist hier eine Visitenkarte mit meiner privaten Handynummer für Notfälle!“ Ich nahm die Karte und sah direkt in ihre Augen, die meinem Blick aufrichtig und ohne zu blinzeln standhielten.
„Danke! Hoffentlich sehen wir uns nicht wieder.“ Ich nahm meinen Rucksack und verließ das Arztzimmer. Mit jedem Schritt, den ich Richtung Ausgang hinter mich brachte, klopfte mein Herz weniger hart in meiner Brust. Die Straßen bis zum Bahnhof waren am frühen Morgen menschenleer. Im Zug suchte ich mir ein leeres Abteil. An jeder Haltestelle ließ ich etwas von meinem Ballast zurück.
Der Weg über die Straße weckte Erinnerungen an einen rebellischen Teenager mit roten langen Haaren, denen ich meinen Spitznamen verdankte. Beim Anblick des kleinen Häuschens mit den grünen Fensterläden biss ich mir auf die Lippen. Der Schlüssel lag wie immer unter der Fußmatte.
„Omama, ich bin wieder da.“ Mein Weg führte mich in die Küche. Weiß und Holz blitzblank. Ich stellte den Rucksack ab und trat in die gute Stube. Sie schlief auf der Ledercouch. Weitere Linien hatten sich in das geliebte Gesicht gegraben. Ich setzte mich auf den Sessel ihr gegenüber und wartete.
„Marie, warum weckst du mich nicht? Ich habe dich gar nicht gehört.“ Sie setzte sich auf und faltete die Decke zusammen.
„Es war so ruhig und friedlich, bin wohl eingeschlafen.“
„Der Sessel war schon immer dein Lieblingsplatz. In deinem Zimmer ist noch alles wie früher.“ Ein Kloß ließ mich schwer schlucken. Omama sah mich an, mit so viel Liebe im Blick. Sie klopfte auf den Platz neben sich. Mehr brauchte es nicht. Mit zwei Schritten saß ich bei ihr auf dem Sofa, legte meinen Kopf auf ihre Schulter. Tauchte ein in eine Mischung aus Lavendel und Tosca. Kindheitsduft. Jetzt flossen die Tränen, aufgestaut in Monaten. Sie umarmte mich und strich mir mit der Hand über Kopf und Rücken. Gab mir Halt, bis ich mich beruhigt hatte.
„Jetzt lass dich mal ansehen. Mit der neuen Frisur siehst du sehr erwachsen aus. Die kurzen Haare stehen uns beiden gut. Im Krankenhaus sind lange Haare einfach hinderlich. Den alten Zopf vermisse ich kein bisschen.“ Ihr herzhaftes Lachen klang genau wie früher.
„Es tut mir so leid, dass ich dich nicht besucht habe. Als Papa mich über deinen Unfall informiert hat …“ Ich holte tief Luft, um es auszusprechen, doch mein Hals fühlte sich rau und kratzig an.
„Das hat Zeit, jetzt bist du ja hier. Komm mit, ich habe noch eine Suppe, die machen wir jetzt warm und dazu eine Tasse Tee. Du hast bestimmt Hunger.“ Sie zwinkerte mir zu und stand mithilfe der Gehstützen auf.
„An diese Dinger musste ich mich erst einmal gewöhnen, aber mittlerweile haben wir uns angefreundet. Die neue Hüfte fühlt sich nach dem Aufstehen immer noch etwas steif an.“
Beim Abendessen schilderte sie mir in lebhaften Bildern ihre Rehabekanntschaft. Ich lauschte ihrer Stimme, froh nicht reden zu müssen.
„Geh ruhig zu Bett. Ich werde noch etwas lesen.“
„Gute Nacht.“ Hundemüde schlüpfte ich unter die Bettdecke, der Lenorduft wehte mich in den Schlaf.
Stunden später erwachte ich in meine Decke verwickelt. Traumfetzen tanzten haltlos in der Dunkelheit. Wummernde Beats. Kalte Wand im Rücken. Grobe Hände. Riss.
Zitternde Hände schoben die Decke zur Seite. Auf wackeligen Beinen schlich ich in das Bad. Der heiße Wasserstrahl spülte die Traumfesseln in den Ausguss. Ich rubbelte jedes Stück meiner Haut mit dem Handtuch trocken. Fertig angezogen trat ich in die Küche, wo die Kaffeemaschine blubberte.
„Prima, du bist schon wach. Ich habe uns Brötchen zum Frühstück geholt.“ Der starke Kaffee belebte mich.
„Kommst mit, die Gemüsebeete müssen umgegraben werden.“
„Ich helfe dir gerne.“
Ein zweites Paar Gummistiefel fand ich im Schuhschrank. Da die Gehstützen im Garten hinderlich waren, hatte sich Omama einen Gehwagen besorgt. Mit der Teleskop-Astschere konnte sie im Stehen die Triebe abschneiden. Sie schnitt die Beeren und überließ mir das Gemüsebeet. Ich rammte den Spaten in die Erde, brach sie auf. Bald hatte ich meinen Rhythmus gefunden. Stechen, Erde ausheben und zerkleinern. Auf den Knien zog ich fiese Gierschwurzeln heraus. Wurzelschnüre aus meiner Vergangenheit lassen sich nicht so leicht ausmerzen.
„Marie, für deine Hilfe lade ich dich auf eine Pizza zu Luigi ein. Seine Pizza ist die beste in der ganzen Gegend.“
„Eine gute Idee. Pizza Hawaii ist immer noch meine Lieblingspizza.“
„Dann zieh dich um. Luigi öffnet in 30 Minuten und ich habe einen Bärenhunger.“ Von Vorfreude erfüllt rannte ich die Treppen nach oben.
In der kleinen Pizzeria stand die Zeit still.
„Buongiorno Signora. Heute in Begleitung?“, begrüßte uns Luigi. Er führte uns an unseren Lieblingstisch in der Ecke.
„Mein lieber Luigi, meine Enkelin Marie ist zu Besuch und wir haben einen Bärenhunger.“
„Marie, Bella Donna. Ich hätte dich nicht erkannt. Was darf ich bringen? Pizza Hawaii und Chianti?“
„Mit der Pizza liegst du richtig, aber ich möchte lieber eine Apfelschorle trinken.“
„Eine gute Wahl, Marie. Für mich auch eine Apfelsaftschorle. Wir haben im Garten gearbeitet und sind durstig.“
„Bene, Grazie! Pizza Hawaii und Apfelschorle kommt sofort.“
Wir tranken unsere Schorle und sie erzählte mir, welche Gemüsesorten sie dieses Jahr ausgesät hatte. Die Pizza war dick mit Käse belegt, der beim Zerteilen Fäden zog. Würziger Schinken und saftige Ananas, eingerahmt vom knusprigen Rand.
Wummernde Beats und gierige Hände rissen mich aus dem Schlaf. Ich rollte mich zur Kugel, glitt wimmernd in den Schlaf zurück. Hände, überall Hände.
„Ich bin da. Es ist nur ein Traum. Marie wach auf.“ Ich lag still, hörte die vertraute Stimme. Spürte zarte Hände und öffnete die Augen. Omama streichelte meine Hände und wischte eine Träne von meiner Wange.
„Ich weiß, dass du in der Suchtklinik warst.“ Sie sah mich an und endlich bekam mein Wall einen Sprung.
„Ein Kunde vom Friseursalon lud mich auf einen Drink ein … Ich traf mich jeden Tag mit Arno. Wohnte in seiner Wohnung … Ich wollte dazugehören und trank immer mehr. Eines Abends ging es hoch her … Eine Party mit lauter Musik … Ich erinnere mich nur an kalte Wände … Hände und Schmerzen. Ich erwachte in einem Krankenhausbett. Mir fehlten 24 Stunden. Nacht für Nacht holen sie mich ein, martern mich.“
„Meine arme Marie. Als ich jung war, gab es auch für mich eine Zeit mit Albträumen. Mit der Zeit verblassen die Quälgeister.“ Sie legte sich neben mich und summte mir Schlaflieder ins Ohr. Am Nachmittag half ich ihr im Gewächshaus.
„Jetzt bist du dran. Nimm dir die Sämlinge der Ochsenherztomaten und setze immer eines in ein Töpfchen mit Anzuchterde.“ Sachte nahm ich die Pflanze mit dem Pikierstab auf. Meine Hand zitterte, darum brauchte ich viel länger als Omama, um den Winzling einzusetzen. Erde vorsichtig festgedrückt. Fertig. Jetzt sind es nur noch 100 weitere. Puhh.
„Schau sie dir an, sie sind prächtig gewachsen in den letzten Wochen. Heute setzen wir die kräftigsten Gemüsepflanzen in größere Töpfe.“ Die Pflanzen waren inzwischen so lang wie mein Unterarm und konnten an geschützte Plätze ins Freie umziehen. Nach stundenlanger Arbeit im Garten fiel ich todmüde ins Bett. Die Alpträume weckten mich nur noch selten.
Am nächsten Tag schoben sich schon morgens verstreute Wattewolken vor die Sonne und ließen mich frösteln. Ich lief rasch das kurze Stück bis zum Briefkasten am Gartenzaun. Als ich die Zeitung aus dem Kasten zog, rutschte ein Brief an mich heraus. Auf dem Rückweg ich riss das Kuvert auf und lass den kurzen Text.
Wir möchten Ihnen mitteilen, dass Arno Neidlinger am 13.07. verstorben ist. Beim Ausräumen seiner Wohnung wurde Ihr Personalausweis gefunden. Dieser kann bei der Hausverwaltung abgeholt werden. ….
Marianne Apfelstedt, Jahrgang 1969, lebt mit ihrer Familie, Katzen und ein Hund in Bayern. Nach einigen Jahren aktivem Schreiben in einer Schreibwerkstatt, veröffentlicht sie seit 2019 Kurzgeschichten im Internet.
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