Wachstum

Eileen K für #kkl26 „Säen und Ernten“




Wachstum

„Die ersten Lebensjahre sind prägend für unsere zukünftige Entwicklung“

Ich mache gerade mein freiwilliges soziales Jahr in einer Kinderkrippe – bei den ganz Kleinen. Ich beobachte einen einjährigen Jungen dabei, wie er voller Begeisterung die vorbeifahrenden Autos auf der Straße beobachtet.
Jeden Morgen kommt er mit einem breiten Grinsen in unserem Gruppenraum. Wenn ich ihm in die großen strahlenden Augen blicke, sehe ich pure Lebensfreude.

Ein paar Monate später bekommen wir einen Anruf – er könne nicht mehr zu uns in die Krippe kommen, seine Mutter sei mit ihm und seiner Schwester in ein Frauenhaus gezogen. Wir wissen nicht, was passiert ist.
Ich möchte an dieser Stelle auch keine Spekulationen aufstellen und weder ihr, noch ihrem Mann irgendetwas unterstellen. Denn dies ist nicht meine Geschichte zu erzählen.
Wir wissen nicht, was passiert ist, doch meine Gedanken fangen an sich zu drehen. Wieder und wieder muss ich daran denken, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die Entwicklung des Kindes sind, wie prägend eben jede Erfahrungen für das zukünftige Leben sein können. Wieder und wieder geht mir dieser Satz durch den Kopf, in Verbindung mit dem strahlenden Gesicht des kleinen Jungen, während er die vorbeifahrenden Autos beobachtet.

Ich wünsche ihm, dass ihm sein Strahlen nicht genommen wird. Ich wünsche ihm, dass potentielle Streitigkeiten der Eltern ihm nicht seiner Lebensfreude berauben – ich wünsche ihm so sehr, dass diese Begeisterung von keinem Kindheitstrauma überschattet wird.

Kindheitstrauma
Ein Wort, welches einerseits viel zu schnell in den Mund genommen, andererseits viel zu selten ernstgenommen wird.

Wir alle tragen noch die Samen unserer Kindheit in uns – manche Bedürfnisse konnten nie erfüllt werden und schlummern unerkannt in uns. Manchmal wissen wir ganz genau, was wir benötigen, damit diese Samen keimen können – doch es regnet einfach nicht. An dieser Stelle brauchen wir Hilfe, die uns von außen mit etwas Wasser unterstützen kann.
Es ist keine Schande, wenn man im Erwachsenenalter noch Samen aus seiner Kindheit mit sich trägt und erkennt, dass man sie ohne Hilfe nicht gießen kann.
Wachstum benötigt viel Geduld und Pflege.
Die Grundsteine hierfür werden in den ersten Lebensjahren gelegt – in dieser Zeit findet der wichtigste Wachstumsprozess statt, damit nach ein paar Jahren ein starker Baum entsteht.

Doch in dieser Zeit entstehen auch Ängste und Unsicherheiten, welche dem Wachstum im Wege stehen.

Wir befinden uns mit den Kindern im nahegelegenen Streichelzoo – während die meisten Kinder vielleicht etwas ängstlich, aber neugierig zu den Tieren gehen, fängt ein zweijähriger Junge panisch an zu schreien, sobald eines der Tiere ruckartig anfängt zu springen.
„Beißen! Beißen!“
Ich nehme ihn auf den Arm und wir nehmen zusammen etwas Abstand zu den Tieren. Ich erkläre ihm, dass er keine Angst vor den Tieren haben muss und zeige ihm, dass sich auch die anderen Kinder den Tieren nähern können ohne gebissen zu werden. Wenn er möchte, kann ich ihn auch weiterhin auf dem Arm behalten, so hätte er weiterhin einen sicheren Abstand zu den Tieren, könne sie aber dennoch aus der Nähe beobachten.
„Beißen nicht. Beißen nicht.“
Er möchte wieder zu den Tieren, also gehen wir vorsichtig wieder in Richtung des Geheges – sobald jedoch eines der Tiere wieder springt, verfällt er sofort wieder in Panik.
„Beißen. Beißen.“

Im Nachhinein finden wir heraus, dass es wohl einen Vorfall mit dem Nachbarshund gab, den der kleine Junge etwas geärgert habe.
Viele Ängste aus unserem späteren Erwachsenenleben stammen aus der Kindheit, teilweise aus einer Zeit, an die wir uns vielleicht gar nicht mehr richtig erinnern können. Auch wenn wir rational versuchen uns einzureden, dass wir vor dem springenden Tier keine Angst haben müssen, merken wir häufig, dass Rationalität uns an dieser Stelle nicht wirklich hilft. Emotionen können überfordern – besonders wenn sie ihren Kern in unserer Kindheit haben und in die hinterste Ecke unseres Bewusstseins verbannt wurden.

Ich liege auf der Therapiecouch und versuche mich mit Emotionen auseinandersetzen, welche ich jahrelang versucht habe zu unterdrücken. Hungern. Selbstverletzung. Alles um nicht fühlen zu müssen. Wieder und wieder der Drang all dem ein Ende zu setzen. Alles um nicht fühlen zu müssen. Essen, kotzen, laufen. Alles um nicht fühlen zu müssen.

Bestimmte Emotionen sorgen in mir dafür, dass ich mich als ein regelrechtes Monster wahrnehme. Aus mir ist kein harmloser Strauch geworden, sondern eine fleischfressende Pflanze, vor der man sich in Acht nehmen muss. Ich stelle eine Gefahr dar. Ich bin das Problem. Ich schade meinem Umfeld, wenn ich diese Emotionen nicht tief in mir vergrabe und mit meinen destruktiven Kompensationsmechanismen betäube.

Das ist es jedenfalls, was mir meine Gedanken seit Jahren einreden. So habe ich es vor über 10 Jahren gespiegelt bekommen – so wurde es mir von Außen gezeigt. Ich wurde mit einem vergifteten Wasser gegossen, ohne dass sie es gemerkt haben.
Die Glaubenssätze welche ich in meiner Kindheit eingepflanzt bekommen habe, begleiten mich bis heute – mir wurde kein gesunder Umgang mit Emotionen beigebracht. Mir wurde gezeigt, dass es manche Emotionen nicht okay sind.
Wenn ich wütend bin, bin ich ein Monster und schade meinem Umfeld.
Die Verdrängung der unangenehmen Emotionen führte letztendlich zu einer schweren Depression, welche mich fast das Leben gekostet hätte, sowie einer ziemlich hartnäckigen Essstörung.

Doch es gibt keine guten und schlechten Emotionen. Es gibt angenehmere und weniger angenehmere, doch jede Emotion hat ihre Daseinsberechtigung und möchte uns etwas mitteilen.
Wenn wir als Kind nicht gelernt haben mit ihnen umzugehen, benötigt es häufig Jahre der intensiven Therapie, um diese aufzuarbeiten. Aus diesem Grund ist es unfassbar wichtig, Kinder von klein auf dabei zu begleiten und ihnen zu zeigen wie sie mit ihren Emotionen auf einem gesunden Weg umgehen können.

„Mein Bauch tut weh, kannst du die Mama anrufen?“
Wir befinden uns gerade beim Mittagessen – es gab einen kleinen Konflikt mit dem Dreirad zwischen zwei befreundeten Kindern. Eines der Kinder, nennen wir ihn M, wollte unbedingt mit dem Dreirad fahren, was K gerade benutzte. Es führte zu einem Streit, welcher dazu führte, dass K weinend zu mir in die Arme lief. Nachdem er sich wieder beruhigte, merkte ich, dass M weinte und über Bauchschmerzen klagte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, nachdem er die Reaktion von K bemerkte und hatte Angst, dass dieser nicht mehr mit ihm spielen wollte.
Nachdem ich ihm erklärte, dass es okay sei, er sich bei K entschuldigte und wir uns darauf einigen, beim nächsten Mal noch ein weiteres Dreirad aus dem Schuppen zu holen, scheint die Situation zunächst einmal geklärt, bis er beim Mittagessen erneut bedrückt über Bauchschmerzen klagt und keinen Bissen herunter bekommt.
Wir reden über „Auas“ und darüber, wie diese irgendwann aus dem Fenster fliegen. „Das Aua was du jetzt fühlst, wird auch irgendwann aus dem Fenster fliegen.“ Erkläre ich M. „Manchmal braucht es etwas um seinen Weg zu finden – genau wie diese Fliege siehst du?“
Manchmal muss man der Fliege auch einfach dabei helfen ihren Weg zu finden und das Fenster für sie öffnen.

Als Kinder haben wir keinen Einfluss darauf, in welchem Umfeld wir aufwachsen, wir können unsere Bedürfnisse noch nicht eigenständig erfüllen, sind mit unseren Emotionen noch überfordert – wir sind von unserem Umfeld abhängig.
Wir Erwachsenen sind dafür verantwortlich, dass die Bedürfnisse der Kinder erfüllt werden.
Wir sind für die Pflege der jungen Pflanzen verantwortlich – den sie können sich nicht selber gießen, müssen aber später mit den Folgen einer unzureichenden Pflege leben.
Wenige Jahre der Vernachlässigung können zu Jahrzehnten an Problemen im Erwachsenenalter führen.

Bevor ich in der Krippe angefangen habe, hatte ich einen heiden Respekt vor der Arbeit mit den ganz Kleinen. Ich hatte Angst davor ihre Bedürfnisse nicht erfüllen zu können, ich hatte Angst davor einen negativen Einfluss auf ihren Wachstumsprozess zu haben – und möge dieser auch noch so klein sein. Doch im Laufe dieses Jahres in der Kinderkrippe habe ich gelernt, dass meine Ängste unbegründet waren – das Wichtigste, was wir den Kindern geben können ist Wärme, Empathie und ein Verständnis für ihre Bedürfnisse. Auch wenn ich keine ausgebildete Pädagogin bin und mein Psychologiestudium noch nicht begonnen habe, habe ich in diesem Jahr in der Kinderkrippe gelernt, wir wichtig es ist Kindern zu zeigen, dass sie mit all ihren Emotionen okay sind.

Ich befinde mich mittlerweile seit über 5½ Jahren in Therapie- ich habe verschiedene Therapieformen gemacht und immer besser verstanden, was hinter meiner Erkrankung steht. Welche Samen, welche Spurenelemente oder Mängel in dem Wasser mit dem ich in Berührung gekommen bin, vielleicht dazu geführt haben, dass ich krank geworden bin. Doch ich habe vor allem gelernt, wie schwer es mir fällt meine Emotionen auszuhalten – und an dieser Stelle können wir präventiv bei den Kindern ansetzen. Ich möchte hiermit nicht sagen, dass Kinder welche einen gesunden Umgang mit Emotionen gelernt haben, nicht mehr psychisch krank werden können, doch sie haben in diesem Bereich deutlich stärkere Wurzeln, sind deutlich weniger anfällig für destruktive Kompensationsmechanismen, wie beispielsweise Süchte, da sie ihre Emotionen weniger betäuben wollen.
Sie sind resillienter, wie man es in der Fachsprache so schön sagt.

„Die ersten Lebensjahre sind prägend für die spätere Entwicklung.“
Meiner Auffassung nach geht es hierbei nicht darum, ob man dem Einjährigen nun Mozart vor dem Schlafen vorspielt, oder doch lieber die bilinguale Sprachentwicklung für das spätere Leben fördert, sondern vor allem darum, dass wir den Kindern einen gesunden Selbstwert vermitteln. Dass man ihnen zeigt, dass sie mit all ihren Bedürfnissen und Emotionen gesehen und akzeptiert werden.
Damit sie sich zu Erwachsenen entwickeln, die genauso strahlende Augen voller Lebensfreude haben, wie der kleine Junge aus der Krippe, der die vorbeifahrenden Autos beobachtet.






Eileen K ist im Jahr 2000 geboren. Bereits in ihrer Schulzeit entdeckte sie ihre Liebe zum Schreiben – hier hat sie eine Möglichkeit gefunden, ihre Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen in künstlerischer Form zu verarbeiten. Mit ihren Texten möchte sie das Tabu, welches immer noch rund um das Thema mentale Gesundheit herrscht, brechen und Aufklärung betreiben.







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: