Bitterböse

Klaus Enser-Schlag für #kkl26 „Säen und Ernten“




Bitterböse

 „Satire zu schreiben, ist heute das Wagnis, mit der Realität zu konkurrieren“ (Rolf Mohr *1947, Diplom-Psychologe)

Als Sören Petersen die Villa seiner Tante betrat, war die Geburtstagsparty schon in vollem Gange. Es war Samstag, der 23.April 2039. Die Freifrau Clothilde Lucienne Agathe von Trottnighausen, beste Freunde nannten sie Cloe, wohnte in Hamburg-Harvestehude, nahe der Außenalster. Sie wurde heute 70 Jahre alt und hatte sich als bildhauende Künstlerin einen Namen gemacht. Seit sie ihr Kunstwerk „Diversity-Orgy“ geschaffen hatte, war sie zum Superstar in der Kunst- und Kulturszene Hamburgs avanciert. Das Werk bestand aus acht ineinander verschlungenen Körpern undefinierbaren Geschlechtes, welche sich in höchst eindeutig-zweideutigen Positionen der freien Liebe hingaben. Die Presse überschlug sich mit Lobeshymnen. 

„DIE neue Ikone der woken Lifeart!“ „Diversitiy-Cloe auf dem Kunst-Olymp angekommen!“ „Cloe for President!“

Sören betrat gerade den Salon seiner Tante, als ihn diese auch schon erblickte.

„Sören! Juhu!“, rief Cloe erfreut, bahnte sich einen Weg durch die Menge und umarmte ihren Neffen so fest, dass Sören Schnappatmung bekam. Cloe hatte ihr Gesicht mit zentimeterdicker Bio-Schminke zugekleistert und sich mit Hennafarbe rote Bäckchen aufgemalt. Auf ihrem Kopf thronte eine ägyptische Perücke, Marke Kleopatra und ihre große, hagere Gestalt war in ein nachtblaues, indisches Gewand gehüllt.

„Alles Gute zum Geburtstag, liebe Tante“, japste Sören, noch immer unter Atemnot leidend und überreichte Cleo ein Geschenk.

„Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen“, säuselte die Diverstiy-Queen und zog Sören zu einer attraktiven Dame, welche etwas abseits der schnatternden Menschenmengen stand. „Das ist Jessica Tinstetten“, sagte Cloe und strahlte ihren Gast an. „Sie hat ein sehr interessantes Buch geschrieben, du kennst sie doch sicher, oder?“

Sören verneinte und Cloe entschwebte zu einer Gruppe von jungen Balletttänzern, welche sie mit Gratulationswünschen und „Bravo“-Rufen überschütteten. Sören und Jessica sahen dem allgemeinen Schmusekurs stumm zu. Schließlich begann Sören mit dem Small-Talk.

„Und Sie haben also ein Buch geschrieben?“

„Ja“.

„Über welches Thema?“

„In meiner Jugend war ich die erste Klimaaktivistin, die eine Handvoll Kartoffelbrei auf ein Chagall-Gemälde warf“, erzählte Jessica und ihre mandelförmigen Augen begannen zu funkeln.

„Oh“, erwiderte Sören und bemühte sich um Neutralität.

„Es waren herrliche Zeiten“, fuhr Jessica fort. „Wir hatten damals eben noch Visionen. Es gab eine Zeit, da klebte ich öfter auf Autobahnen als in der U-Bahn am Haltegriff. Deshalb heißt meine Biografie auch „Sekundenkleber und Kartoffelbrei“.

Sören unterdrückte eine ungezogene Antwort. Wie waren ihm diese Klimaaktivisten damals auf den Geist gegangen! Trotzdem – Jessica war eine sehr attraktive Frau und Sören saß schon lange auf dem Trockenen.

„Leider erntete ich nach meiner Buchveröffentlichung einen Shitstorm, weil diese verdammte Welt noch immer nicht untergegangen ist!“

In Jessicas Augen standen Tränen, doch bevor Sören sie trösten konnte, gellte ein lauter Schrei durch den Salon. Cloe war in Ohnmacht gefallen! Sören und Jessica liefen zu der bewusstlosen Ausnahmekünstlerin und entdeckten Sörens Geschenk, welches ausgepackt auf dem Bauch des gefallenen Engels lag. Alle waren starr vor Schreck und starrten Sören an. Jessica fasste sich als erste.

„Warum, um alles in der Welt, machen Sie Ihrer Tante denn solche Geschenke?“

Es war schon spät, als Sören nach Hause fuhr. Als umweltbewusster Mensch hatte er sich eine Rikscha bestellt, natürlich mit einem Fahrer, der einen Migrationshintergrund besaß. Alles andere wäre als rassistisch angesehen worden. Jessica saß neben ihm. Sie hatte ihm eindeutige Signale gegeben und Sören wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Es war eine romantische Nacht. Die meisten Stadtteile Hamburgs lagen wegen der Stromrationierung in tiefer Finsternis und die vielen Obdachlosen auf den dunklen Straßen saßen in trauter Runde beieinander und prosteten sich gegenseitig zu.

„Bewundernswerte Menschen“, sagte Jessica versonnen. „So völlig im Einklang mit sich und ihrer Umwelt“.

Weil Jessica noch Hunger hatte, machten sie bei einem Superfood-Schnellrestaurant Halt. Da Fleisch astronomisch teuer geworden war, hatten die bekannten Fast-Food-Ketten fast alle Filialen geschlossen -der Beginn einer neuen Ära. Bei „Mac-Insekt“ gab es herrliche Gerichte, allen voran der „Kaki-Booster“. Das waren gegrillte Kakerlaken zwischen zwei Vollkornbrotschnitten mit welken Salatblättern und einer braungrünen Soße, natürlich vegan und glutenfrei.

Die Geschmacksrichtung der Soße pendelte zwischen Hustensaft und Lebertran. Dazu gab es eine zuckerfreie Sesamlimonade. Köstlich!

Danach gingen sie den restlichen Weg zu Sörens Wohnung zu Fuß und verbrachten miteinander eine versoffen-fröhliche Nacht.

Als Sören am nächsten Vormittag mit einem entsetzlichen Kater erwachte, war Jessica schon weg. Sie hatte einen kurzen Zettel hinterlassen. „War durchschnittlich. Melde mich vielleicht!“ Sören stieg deshalb gerade traumatisiert aus dem Bett, als es klingelte. Er öffnete die Wohnungstüre. Zwei Männer in schwarzen Kunstledermänteln standen vor ihm.

„Sören Petersen?“, fragte der größere Mann.

„Ja“.

„Anziehen, mitkommen!“

Die Männer machten einen solch unbarmherzig-autoritären Eindruck, dass Sören ohne Widerstand mitging. Kurz darauf saß er einem Kommissar Kröger gegenüber, der ihn bitterböse musterte.

„Ihre Tante hatte gestern einen Ohnmachtsanfall, nicht wahr?“

Sören bejahte dies.

„Und Sie können sich denken, warum?“

„Ich…ich habe leider nicht nachgedacht und…“

„Nicht nachgedacht?“, fuhr ihn Kröger an. „Sie schenken ihrer Tante eine Biografie über Tschaikowsky und wundern sich, warum sie kollabiert?“

„Nun, ich…“

„Tschaikowsky war RUSSE! Ist Ihnen das nicht bekannt?“

„Doch, aber…“

„Ihre Tante hatte Sie schon länger im Verdacht, ein abtrünniger Staatsbürger zu sein“, fuhr Kröger fort. „Letztes Jahr haben Sie ihr eine Biografie über Richard Wagner geschenkt!“

„Ja, und?“

„Wagner war Antisemit!“, brüllte Kröger. „Was denken Sie sich eigentlich dabei? Sind Sie auf ein schnelles Erbe scharf?“

Sören senkte betreten den Kopf.

„Außerdem“, fuhr Kröger fort, „haben wir durch unseren Lockvogel, Frau Jessica Tinstetten, noch einiges mehr erfahren!“

Sören traute seinen Ohren kaum.

„Was? Jessica war…“

„Auf Sie angesetzt, jawohl“, schnauzte Kröger zurück. „Dank der Anzeige Ihrer Tante konnten wir gestern diese „Romanze“ inszenieren!“

Sören blieb die Spucke weg.

„Nicht nur, dass Sie Literatur von Dostojewski, Tolstoi, Tschechow, Puschkin und Karl May in Ihrer Bibliothek besitzen, nein, Frau Tinstetten fand auch noch einige Flugblätter mit der Aufschrift: „Selbstständiges Denken befreit und macht dich glücklich“ Haben Sie dieses Zeug verteilt?“

Sören nickte.

„Gut, dann machen wir jetzt mit Ihnen noch einen IQ-Test, danach sehen wir weiter!“, sagte Kröger.

Das Testergebnis lag drei Stunden später vor. Kröger sah Sören lange an und meinte dann:

„Ihr IQ-Test weist einen Wert von 90 auf. Das ist hochgefährlich. Mit diesem Wert kann ich Sie nach heutigen Maßstäben nicht mehr unter die Menschen lassen. Die lebenslängliche Unterbringung in einer entsprechenden Einrichtung ist daher unverzüglich einzuleiten!“

Fassungslos flüsterte Sören: „Es ging mir doch nur darum, dass die Menschen nicht völlig verlernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Ich wollte ganz einfach frischen Wind in diese abgestorbene Gesellschaft bringen“.

„Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, erwiderte Kröger mit eiskaltem Blick. „So war es immer und so wird es auch bleiben!“





Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,

Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)

Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,

Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen

in Anthologien.

Mehr zu meiner Arbeit unter:

https://www.klaus-enser-schlag.com/

und

https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag

Interview mit Klaus Enser-Schlag HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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