Theresa Vorwerk für #kkl26 „Säen und Ernten“
Das falsche Gesicht
André war alt geworden. Er merkte es, wenn er mit den ersten Rufen der Vögel im Busch vor dem Fenster die Augen aufschlug und überlegen musste, wo er war. Früher war er aufgewacht und sofort war alles da gewesen: sein Name, die Namen seiner Frau, seiner Tochter, seines Hundes, seiner Freunde. Die ersten Sekunden jedes neuen Tages hatte er damit verbracht, die Namen zu denken, aus denen sein Leben bestand. Heute glitt er nach langem Kampf mit der Schlaflosigkeit in einen Zustand diffuser Bilder und Töne, er fiel durch die Schatten, die sich mit den frühen Anzeichen der Dämmerung stufenlos unter die Wirklichkeit mischten. Die Geräusche wurden aufdringlich. Er spürte den Raum und seine Fremdheit. Er erinnerte sich an den Namen seines Hundes, bevor ihm einfiel, dass der im Garten unter der alten Eibe begraben lag.
Er fuhr mit dem Blick die Decke entlang. Zwei Fliegen saßen im trüben Licht. An der Wand hingen Bilder in dunklen Rahmen: eine Jagdszene, schlanke Pferde, blitzende Gewehre. Erst jetzt spürte er seinen Körper. Er bewegte die Finger, dann die Zehen. Der Schmerz kam zurück und fraß sich in seine Gelenke. Er zog ein Bein aus dem Bett und stemmte sich hoch. Er saß halb aufrecht auf der Matraze. Der Raum schlingerte. Er wartete, bis die Punkte vor den Augen verschwanden, dann stand er auf und ging ans Fenster. Der Tag war noch zusammengefaltet. Das Maisfeld sah staubig aus, der Himmel flach. Ein Storch stand in den aufgeworfenen Furchen schwarzer Erde, dort, wo gestern gepflügt worden war. Ein Schuss hallte vom Wald herüber, der Storch schnäbelte in seinem Gefieder. Ein paar Stare flatterten aus dem Busch unter dem Fenster. Jetzt kam sein eigener Name zurück. André. Er dachte ihn ein paar mal hintereinander, er klopfte mit den Knöcheln auf das Fensterbrett. Dann ging er ins Bad. Zum Anziehen setzte er sich auf den Klodeckel. Die Socken sträubten sich, an seine Füße zu passen. Er musste sich bücken, und beim Hochkommen schlug sein Kopf gegen das Regalbrett. André verharrte einen Moment zusammengekrümmt, richtete sich dann auf. Er fand sein eigenes Gesicht im Spiegel. Grau wie der Morgen, bevor die Sonne aufgegangen war. Früher hatte er sich nebenbei anziehen können, in wenigen Minuten, während er in Gedanken schon auf dem Feld war oder im Garten oder bei den Tieren. Sein Körper hatte sich anziehen lassen und hatte ihn die Treppe heruntergetragen und hatte gearbeitet, ohne sich ein einziges Mal in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu schieben. Heute hing er an André wie ein Klotz. Eine unbewegliche Masse, die er durch die Zimmer manövrieren, die er zu jeder Bewegung überreden musste. Ein Körper, der mehr Schwere besaß, als André Kraft hatte. André drehte am Wasserhahn und wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser brannte auf seinen Wangen. Er zog einen Pullover über und stieg die Treppe hinab. Bis zur Hälfte schaffte er es, bevor der stechende Schmerz in sein Knie fuhr. Die letzten drei Stufen rutschte er mehr als zu gehen. Die Stiche pulsierten bis in den Rücken hoch. André biss die Zähne zusammen und hielt sich am Geländer aufrecht. Er gab keinen Laut von sich. Sie brauchte nicht zu wissen, wie es um ihn stand.
„Du musst auf dich achtgeben“, sagte sie immer, „ich kann das nicht ewig tun“.
Er winkte ab und strich ihr über das dichte Haar. Er gab auf sich acht. Aber zuallererst gab er auf sie acht. Das hatte er versprochen, damals vor dem Altar. Wenn sie rissige Hände vom Schneckengift hatte, dann cremte er sie ein und hielt ihre Finger zwischen seinen, bis sie wieder weich und warm waren. Wenn sie sich beim Heu verladen den Rücken verdrehte, dann massierte er ihre Schultern und verordnete ihr Ruhe und brachte ihr Limonade und eine Zeitung zum Stuhl im Garten, und manchmal las er ihr auch vor, wenn er die Zeit dazu hatte. Sie liebte es, vorgelesen zu bekommen. Sie sagte: „Ich vergesse alles andere, wenn ich dir zuhören kann“.
Andrés Atem beruhigte sich wieder, er richtete sich auf und löste die zitternde Hand vom Geländer. Er straffte die Schultern. Er unterdrückte den Schmerz. Er würde ihr heute vorlesen. Heute hatte er Zeit. Es gab keine Arbeit auf den Feldern, es gab keine Tiere, die gefüttert werden wollten. Der Garten konnte warten. Er würde die zwei Korbstühle in den Schatten stellen und die Kissen aus der Scheune holen und dann würde er ihr aus Moby Dick vorlesen. Sie würde die Augen schließen und kleine Sonnenflecken würden auf ihrem weißen Haar tanzen. André spürte, wie Freude in ihm aufstieg. Er ging die letzten paar Schritte zur Küche. Die Kaffeemaschine hustete. Er öffnete die Tür und er lächelte dabei. Gleich würde er seine Frau, die an der Anrichte stand und Brot schnitt, in die Arme schließen, ihren erdigen Duft einatmen.
An der Anrichte stand sie, sie war schmal und ihr dunkles Haar glänzte im Dämmerlicht beinahe blau. Er konnte die Türklinke nicht loslassen. Etwas stimmte nicht. Er betrachtete ihren Rücken. Warum war ihr Haar dunkel? Warum war sie so jung, während er den Körper eines alten Mannes mit sich herum trug? Seine Frau drehte sich zu ihm um. Sie hatte die richtigen, mandelförmigen Augen. Ihr Gesicht war falsch.
„Papa?“, sagte die junge Frau mit dem falschen Gesicht, „alles okay?“
Die Bilder sortierten sich, die Namen entwirrten sich. Seine Tochter stand an der Anrichte. Seine Frau war tot. Sie war begraben unter Heidekraut und einem Stein, auf dem unter dem gemeinsamen Nachnamen noch Platz war für seinen eigenen Namen. André ließ die Türklinke los. Er war allein. Sie, der er hatte vorlesen wollen, war nicht mehr.
„Papa?“, wiederholte Amanda, „Willst du dich setzen? Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Ich konnte nicht schlafen. Die Vögel sind wahnsinnig – „
André setzte sich an den Tisch und legte die Hände auf die karierte Tischdecke. Amanda betrachtete ihn einen Moment.
„Kaffee?“, fragte sie.
Er nickte stumm.
Amanda wandte sich wieder der Maschine zu, die die schwarze Flüssigkeit tröpfchenweise in die Kanne spuckte. Sie betrachtete die Tasse vor sich und ihr Blick blieb an der kleinen Kerbe im Porzellan hängen. Diese Kerbe hatte sie dort hinein geschlagen. Sie war mit der Tasse in der Hand über die Schwelle zum Wohnzimmer gestolpert und hatte sie fallen gelassen. Der heiße Tee, den sie ihrer Mutter hatte bringen wollen, war auf ihre Hände gespritzt und in den Teppich gelaufen. Ihre Mutter hatte ihre Finger unter kaltes Wasser gehalten und ihr den Kopf gestreichelt. Und ihr Vater hatte gebrummt: „Was soll aus dir mal werden?“
Die kurze Nacht steckte Amanda in den Knochen. Es waren nicht die Vögel, die sie nicht schlafen ließen. Es war die Stille im Haus. Amanda wich ihrem Vater aus, fühlte sich dann schuldig, wenn sie seinen trüben Blick auffing. Sie kam selten her. Die Trauer, in der André versank, lag wie eine Glocke über dem Haus ihrer Kindheit.
Amanda riss sich vom Anblick der Macke im Porzellan los und goss Kaffee in zwei Tassen. Ihrem Vater warf sie ein Stück Zucker dazu, sich selbst schenkte sie Milch ein. Helle Wirbel zogen durch die Flüssigkeit. Sie rührte länger um als nötig. André hatte sich nicht gerührt. Er schaute auf seine Hände. Amanda stellte die Tasse vor ihn hin und setzte sich ihm gegenüber. Sie tranken schweigend. Amanda schloss die Augen und stellte sich die Geräusche eines Morgens vor, an dem ihre Mutter noch da war. Das Radio lief. Ihre Mutter summte vor sich hin, während sie die Marmelade aufschraubte und auf den Tisch stellte. Sie sah nach der Milch, die auf dem Gasherd warm wurde, rührte Kakao hinein für Amanda, die auf der Anrichte sitzen durfte. Sie lachte über André, wenn der sich über die Elstern beschwerte, die im Garten auf- und abstolzierten.
„Du mit deinen Marotten“, sagte sie und hielt ihm die Jacke auf.
Amanda zuckte zusammen. Ihr Vater schlug mit der flache Hand gegen die Fensterscheibe. Das Glas klapperte im Rahmen. Seine Tasse kippte um. Kaffee lief über den Tisch und tropfte auf den Fliesenboden.
„Papa!“, rief Amanda.
„Verdammte Elster“, brummte André.
„Kannst du nicht aufpassen“, sagte Amanda.
Sie holte einen Lappen und legte ihn in die braune Lache auf der Tischplatte, von der Dampf aufstieg.
„Hast du dich verbrannt?“, fragte sie ihren Vater, der wieder in sich zusammengesunken war.
Er schwieg.
„Soll ich dir neuen Kaffee einschenken?“, fragte Amanda und wrang den Lappen über der Spüle aus.
Er schwieg.
„Willst du was essen?“, fragte sie und legte den Lappen auf die Fliesen, wo er den Kaffee einsog.
André hob den Kopf und sah sie dunkel an.
„Ich will, dass du verschwindest“, sagte er tonlos.
Amanda stand still, den tropfenden Lappen in der Hand. Sie spürte das Brennen in ihrem Magen, das langsam in ihre Brust steigen würde und ihren Hals hinauf; das sich wie ein rostiger Geschmack in ihrem Mund ausbreiten und in ihre Augen dringen würde. Sie musste Luft holen, bevor sie reden konnte: „Was habe ich dir getan, Papa?“
„Du bist nicht sie“, schrie André.
Beim Aufstehen knallte sein Knie gegen die Tischkante. André machte einen Laut wie ein gequältes Tier. Das Geräusch ging Amanda durch Mark und Bein. Sie umklammerte den Lappen, als ihr Vater an ihr vorbei humpelte. Die Tür zum Garten knallte zu. Amanda lauschte auf das Plitsch-Plitsch des Kaffees, der auf die Fliesen tropfte.
André stand auf der Hintertreppe. Vor ihm lag der Garten in den ersten Strahlen einer blassen Sonne. In den Hecken raschelten die Spatzen. Er spürte seinen Herzschlag im Hals und in den Fingerkuppen. Der Boden schlingerte. Er griff nach dem Treppengeländer, und dann versetzte er sich mit der Faust einen Schlag aufs Bein. Früher hatte er gewusst, wohin er gehörte. Jeden Morgen war er mit dem Wissen aufgestanden, dass er einen Platz und eine Aufgabe hatte. Heute schaute er nur noch zu. Alles bewegte sich weiter. Die Elstern staksten weiter durch seinen Garten, als beherrschten sie ihn. Und er selbst stand am Rand und konnte nichts festhalten.
Insekten summten um die Blüten der Himbeeren. André stieg die Stufen hinunter. Tau fraß sich durch seine Socken. Er blickte über das Beet, in dem wilde Blumen und Kräuter wucherten, die niemand gepflanzt hatte. Er könnte Unkraut zupfen und die Sträucher stutzen und die Erde auflockern, wie er es früher getan hatte. Er könnte zwischen die Pflanzen greifen und beobachten, wie sich die groben Rillen seiner Hände mit Dreck und Sand füllten und darüber vergessen, wie fragil und zerbrechlich das Gleichgewicht war, das ihn aufrecht hielt. André hockte sich an die Rasenkante. Er strich mit den Händen durch die Pflanzen, die sich wild durcheinander schoben. Fliegen stoben aus den Dolden der Schafgarbe und taumelten gegen sein Gesicht. Er wischte sie beiseite. Dann grub er die Finger in die Erde. Ein schwarzer Rand legte sich unter seine Fingernägel. Er griff in ein Büschel Barbarakraut, riss das Unkraut im Ganzen heraus, schüttelte die Wurzeln, legte es hinter sich auf den Rasen. Als er sich nach vorn lehnte, um die nächste Pflanze zu erreichen, brach in seinem Knie ein Feuer aus. Der Schmerz füllte ihn ganz aus. André lehnte sich zur Seite. Er versuchte, sich mit der Hand abzufangen, aber der Arm knickte ein und André landete mit dem Gesicht im Rasen. Sand drang ihm in den Mund. Er hielt still. Er wünschte sich, zu Gras zu werden. Er blieb liegen, bis das schlimmste vorbei war. Dann stemmte er sich hoch. Auf der anderen Seite des Beetes saß eine Elster auf dem Zaun. Sie sah ihn aus schwarzen Augen an und ruckte mit den Schwanzfedern.
„Du mit deinen Marotten“, murmelte André in seinen Bart. Sein Blickfeld verschwamm in etwas Wässrigem. Er fuhr sich mit der Hand ins Gesicht, Dreck geriet ihm in die Augen. Die Tränen ließ er laufen, sie malten Spuren auf seine erdige Haut.
Amanda stand in der offenen Hintertür. Das Beet, in dem in ihrer Kindheit Tomaten und Zucchini und Eisbergsalat gewachsen waren, war überwuchert von gelbem Kraut. Rauke und Giersch warfen ihre Triebe über jede Grenze hinaus. Aus der Mitte ragte ein hölzerner Busch, ein paar vertrocknete Blätter knisterten gegen seine Äste. Er schien mit dem alten Mann, der bewegungslos auf dem Rasen saß, in stummer Verzweiflung zu wetteifern. Amanda konnte die Tränen sehen, die das Gesicht ihres Vaters hinunter und in seinen Bart liefen. Es gab nicht nur den Vater, den sie als Kind manchmal gefürchtet und als Jugendliche manchmal gehasst hatte. Diesen alte Mann neben dem Beet gab es auch. Einen Vater, der trauerte. Einen Vater, der die Welt nach und nach verlor. Einen einsamem Vater. Amanda ging die Stufen hinunter. Sie überquerte den Rasen, ging neben André in die Knie. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und spürte, wie ein Zucken über seinen Rücken lief. Er sah sie an. Seine Augen waren weit geöffnet. Tränen liefen ihm aus dem Augenwinkel. Er gab keinen Laut von sich. Amanda strich André ein Blütenblatt aus den Haaren.
„Papa“, sagte sie leise.
Er ließ es zu, dass sie seine Hand nahm. Amanda drückte seine Finger. Sie lehnte die Stirn an seine Brust.
André sah seiner Tochter in die mandelförmigen Augen.
„Darf ich dir etwas vorlesen?“
Theresa Vorwerk, Jahrgang 2002, ist in Hannover geboren. Nach der Schule hat sie ein freiwilliges Jahr am Theater Eisleben verbracht und studiert zurzeit Philosophie und Literatur in Hildesheim.
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