Flug in die Wolken

Monika Kühn für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“




Flug in die Wolken

Mein kleiner Bruder Lucas hat Krebs. Dabei ist er erst acht. Ich gehe ihn oft im Krankenhaus besuchen. Da spielen wir Karten oder denken uns was mit Kuscheltieren aus. Die sind dann Astronauten oder Seeräuber. Der Hase ist immer der Käpt’n. Manchmal auch der Chefarzt, wenn wir Operation spielen. Den Frosch haben wir in echt aufgeschnitten und die Füllung rot angemalt. Danach haben wir alles wieder mit Pflaster zugeklebt.

Lucas ist immer traurig, wenn ich gehen muss. „Ben, kommst du auch wirklich morgen wieder?“, fragt er dann. Und ich sage: „Na klar!“

Ich zeige ihm nicht, dass ich auch traurig bin. Ich habe gehört, wie Mama geweint und gesagt hat: „Nur noch zwei oder drei Monate.“ Sie denkt, Lucas muss sterben. Denn sonst hätte sie nicht so geweint. Aber ich will es gar nicht glauben. Ich weiß nicht, was ich mache, wenn er nicht mehr da ist.

Heute bin ich direkt nach der Schule zu ihm gegangen, weil ich danach noch zum Training musste.

Lucas war nicht gut drauf. „Ich vererbe dir alle meine Spielsachen und meine Kuscheltiere“, sagte er auf einmal. „Du kannst sie behalten oder auf dem Flohmarkt verkaufen, aber den Hasen, den sollst du nicht weggeben.“

Er hielt seinen hellbraunen Hasen mit den rot-gepunkteten Innenohren in der Hand.

Ich war total erschrocken. „So’n Quatsch! Vererben kann man nur, wenn man tot ist.“

„Ich glaube, ich bin bald tot. Der Chefarzt hat zu einem anderen was von Exitus gesagt. Der denkt wohl, ich weiß nicht was das bedeutet. Das ist game over.“

Boh, der Arzt spinnt wohl! „Aber das heißt doch nicht, dass du gemeint warst.“

„Doch, Ben. – Glaubst du, der Tod sieht aus wie ein Gerippe? So wie unsere Halloween-Kostüme?“

„Nee, Lucas, bestimmt nicht. Mama hat mal gesagt, wenn Kinder sterben, dann kommt ein Engel und führt sie in den Himmel.“

„Ja, aber nur die lieben Kinder. Ich bin aber … ich habe Angst, Ben.“

Oma hatte mal was von einem dunklen Todesengel erzählt. Der ist zwar besser als ein Gerippe mit einer Sense, aber trotzdem … „Ich hab auch Angst, Lucas.“

Unsere Eltern kamen gegen vier Uhr. Ich wollte Lucas gerade Tschüss sagen, da schrillte auf einmal das Gerät, an das er angeschlossen ist. Er sah ganz bleich aus und japste nach Luft.

„Lucas, Lucas! Was ist? Hey, Kumpel … nicht!“

Papa rannte raus und holte eine Pflegerin. Sie sah auf den Monitor. „Ach du Schreck! Ich sag dem Arzt Bescheid.“

Ein Mann und eine Frau in weißen Kitteln stürzten herein. Sie schickten mich auf den Flur. Da saß ich und wartete. Eine Ewigkeit.

Dann hörte ich Mama schreien. Mir wurde ganz schlecht. Ich dachte nur, lieber Gott, lass Lucas nicht sterben!

Endlich kamen sie raus. „Alles gut“, sagte meine Mutter und strich mir über den Kopf, „Lucas war ohnmächtig. Jetzt muss er schlafen. Morgen können wir ihn wieder besuchen.“

Ich war so erleichtert. Aber wieso hat Mama geschrien, als er ohnmächtig war? Die hat mir bestimmt nicht alles erzählt.

Am nächsten Nachmittag ging ich wieder zu Lucas. „Was war denn gestern mit dir los?“, fragte ich sofort.

Er lächelte ein bisschen. „Ob du’s glaubst, oder nicht – ich bin gestern beinahe gestorben.“

„Mach kein’n Scheiß!“

„Und das war schön.“

„Was?!“

„Also, mir wurde auf einmal so komisch und ich kriegte keine Luft. Und dann merkte ich, wie ich aus meinem Körper herausschwebte. Verstehst du, ich konnte fliegen! Ich sah die Leute im weißen Kittel und Mama und Papa, und ich sah sogar dich auf dem Flur sitzen.“

„Echt?“

„Und dann wurde ich von etwas hochgehoben. Ich schwebte höher und höher und landete in einer Art Wolken. Die waren ganz warm und weich und hell. Mir tat überhaupt nichts mehr weh. Das war irgendwie wie Weihnachten.“

„Wieso, war da ein Tannenbaum?“

„Nein, aber so ein Schein wie von ganz vielen Kerzen. Und ich war so glücklich, als wenn Weihnachten wäre.“

„Wahnsinn!“

„Und weißt du was, Ben, mein Hase war auch dabei. Sein Körper lag wie meiner unten und seine Seele war mit mir da oben. Und der Hase konnte sprechen und sagte zur mir: ‚Lieblingskuscheltiere dürfen mit in den Himmel.’“

„Boh, echt?“

„Und dann hörten wir Mama schreien und mein Hase sagte: ‚Wir müssen noch mal zurück. Du hast ja auch übermorgen Geburtstag und du sollst dich noch von deinen Freunden verabschieden.‘ Und da fand ich es schade, dass wir wieder runter fliegen mussten. Ich wäre gern noch da oben geblieben.“

„Ich glaub es nicht!“

„Doch, ehrlich! Dann bin ich wieder in meinen Körper gekrochen, und alles war so schwer und tat weh. Verstehst du Ben? Ich weiß jetzt, wie sterben geht. Das ist überhaupt nicht schlimm. Ich hab gar keine Angst mehr.“

„Aber ich will nicht, dass du stirbst!“

Lucas seufzte. „Ich hab es mir nicht ausgesucht.“ Dann grinste er. „Kopf hoch, Alter! Irgendwann kommen wir wieder zusammen.“

Irgendwann, in hundert Jahren, im Himmel. Das ist doch kein Trost.

Er nahm seinen Hasen und ließ dessen Ohren schlackern. „Vielleicht sprichst du ja inzwischen mit meinem Hasen.“

Ich überlegte, was meint er denn damit?

Lucas ging es jeden Tag schlechter. Eine Woche nach seinem neunten Geburtstag saßen Papa, Mama und ich an seinem Bett.

Lucas‘ Stimme war ganz leise. „Nimm du den Hasen jetzt, Ben! Dann denkst du immer an mich.“

Er gab mir den Hasen und ich fing an zu weinen. „Nein, Lucas, bleib hier! Flieg noch nicht in die Wolken!“

Mama hielt ihn im Arm, als er aufhörte zu atmen. Diesmal hat sie nicht geschrien. Lucas hatte ihr und Papa auch von seinem Flug in die Wolken erzählt. Sie hatten mir dann gesagt, dass es viele Leute gibt, die so etwas erlebt haben. Nah-Tod-Erfahrungen nennen sie das. Manche fliegen nicht, sondern gehen durch einen Tunnel, aber immer ist da am Ende Licht.

Ich drückte den Hasen an mich. Es war mir, als ob er mit Lucas‘ Stimme zu mir sagte: „Sei nicht traurig, ich hab es doch gut.“

Aber ich war traurig. Ich war so traurig wie noch nie in meinem Leben. Was mache ich jetzt bloß ohne Lucas …

Er bekam einen weißen Sarg, den durften wir bemalen. Es kamen Freunde aus seiner Klasse und seinem Fußballverein. Wir malten Lucas in seinen Sportklamotten, seine Lieblingsfächer in der Schule, seine Hobbys und seine Kuscheltiere. Den Hasen legte ich vor mich hin und zeichnete ihn so genau wie möglich ab. Dann nahm ich ihn in die Hand und verglich. „Na, Käpt’n Hase, ich glaube, ich habe dich gut hinbekommen.“

„Ja, gut gelungen, Bruderherz!“, hörte ich Lucas‘ Stimme in meinen Kopf.

„Ich höre jetzt immer Lucas‘ Stimme, wenn ich mit dem Hasen spreche. Doch das sage ich keinem, denn dann denken die, ich spinne. Aber ich weiß genau, dass er in meiner Nähe ist. Und deshalb bin ich auch nicht mehr so traurig und nicht so allein.“




Monika Kühn

Geb. 1943 in Krefeld, Industriekauffrau, Kabarett („die trampelmuse“) in Düsseldorf, Studium der Pädagogik, bis 2008 Lehrerin an zwei Hauptschulen in Krefeld. Gründungsmitglied der „Krefelder Textweber“ (2010).

Veröffentlichungen bei dtv, Auer-Verlag, Augustus-Verlag und in Anthologien.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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