Jule Lange für #kkl27 „Loslasse, Weglassen, Unterlassen“
Zwei Herzen, eine Seele
Ich bin nicht gläubig und auch nicht spirituell veranlagt. Ich gehe mit einem Realismus durchs Leben, auf den ich schon immer irgendwie stolz war. Leben bedeutet Vernunft, Verantwortung und Logik. Klar, etwas Unvorhersehbarkeit und Emotionalität sind auch dabei. Aber alles lässt sich hinterfragen und erklären.
Ich bin überzeugt, dass dies auf so ziemlich jedes Phänomen und Ereignis in meinem Leben zutrifft. Bis auf eines. Es gibt genau einen Punkt, den ich rational nicht erklären kann. Einen Fleck auf der sonst so sauberen Logikweste.
Objektiv handelt es sich um eine einfache Begegnung, die man nicht einmal als intensiv beschreiben würde. Zwei sich unbekannte Personen befinden sich zufällig zur selben Zeit im selben Raum.
Von außen betrachtet beachten sie sich überhaupt nicht. Keine tiefen Blicke, kein verlegenes Kichern, keine zugesteckte Telefonnummer.
Trotzdem soll diese Begegnung das Leben beider Personen auf eine Weise beeinflussen, die sie niemals für möglich gehalten hätten.
Eine Person der beiden bin ich. Leider, würde ich heute hinzufügen.
Aber der Reihe nach. Ich will versuchen, den Moment der Begegnung zu erinnern und in Worte zu fassen.
Es war ein Mittwoch. Ich ging zum letzten Vereinstreffen vor der Sommerpause. Dies war immer ein lockeres Zusammensein verschiedener vereinsinterner Gruppen. Es gab Snacks, Kaffee und Limo. Wir tauschten uns aus über unsere Pläne für den Sommer, betrieben Smalltalk. Es war ein stetiges Kommen und Gehen.
Mein Blick glitt über die Menge, stoppte und… Dieses Bild sollte das letzte sein, was ich für eine lange Zeit vor Augen hatte. Ob sie geöffnet oder geschlossen waren, spielte keine Rolle. Es war ein junger Mann. Objektiv wahrscheinlich durchaus attraktiv, aber darum ging es überhaupt nicht. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lösen, in meinem Kopf explodierte etwas. Hätte man mich ab diesem Moment gefragt, was ich Stunden, Tage ja sogar Monate vor diesem Moment getan hatte, ich hätte keine Antwort gewusst. Es war, als überschreibe das Bild von ihm alles, was sich sonst in meinem Kopf befand.
Ich kannte ihn nicht. Doch intuitiv wusste ich, dass sich das ändern musste. Anders würde ich es nicht überstehen. An dieser Stelle muss ich betonen, dass sich diese Begegnung keineswegs als „Liebe auf den ersten Blick“ beschreiben lässt. Es war eine Reaktion im tiefsten Inneren. Ein körpereigenes, natürliches Gefühl, einen Teil von sich selbst wiederzufinden.
Für den Moment riss ich mich zusammen und ließ mir nichts anmerken. Ich unterhielt mich weiter mit Freunden und Bekannten, ohne zu wissen, was ich sagte.
Endlich neigte sich der Nachmittag dem Ende zu. Zu Hause durchforstete ich alle Kontakte, die ich hatte auf Facebook, in der Hoffnung, ihn irgendwo zu entdecken. Und Bingo! Ich fasste mir ein Herz und schickte eine Freundschaftsanfrage. Sie wurde tatsächlich bestätigt und es entwickelte sich ein Gespräch. Als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Wir trafen uns recht zeitnah und regelmäßig. Es wurde Herbst und mit ihm kam die Verliebtheit. Auf beiden Seiten. Es gab keinen Haken. Er wollte mich, ich wollte ihn.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Es war, als hätte sich eine Gefühlswelt eröffnet, von der ich nicht ahnte, dass sie existierte. Ich hätte abgestritten, zuvor jemals glücklich gewesen zu sein. Jede bisherige Beziehung war gegen diese Gefühle wie ein grauer Fleck neben der Sonne. Ich selbst leuchtete von innen heraus und überstrahlte jede geflüsterte Warnung. Doch mit der Intensität dieser Glücksgefühle kamen die Zweifel. Wenn es jetzt schon so intensiv war, wie würde es dann werden, falls es auseinander ging? Wie sollte ich solch eine Wucht negativer Gefühle überstehen?
Während dieser Zeit des Zweifelns waren wir wie Magneten. Wir kreisten umeinander. Konnten nicht mit und nicht ohne einander. Machten uns Hoffnungen und zerschlugen sie wieder. Es war nervenaufreibend, doch wehren konnten wir uns nicht.
Uns wurde klar, dass wir es versuchen mussten. Diesen Schwebezustand würde keiner länger aushalten. Und so begann die schönste und zugleich schmerzhafteste Zeit meines Lebens.
Wir liebten den anderen so intensiv wie noch nie jemanden zuvor. Keine Worte werden jemals das Gefühl beschreiben können. Es ging über unsere Körper und unseren Geist hinaus.
Es war, als würde das Universum nur existieren, damit wir den anderen lieben konnten. Wir waren keine Menschen mehr. Wir waren unsere nackten Seelen, gänzlich schutzlos einander ausgeliefert.
Augenscheinlich lebten wir eine „normale“ Beziehung. Wir trafen Freunde, machten Ausflüge, hatten Sex, stritten und vertrugen uns wieder. Doch unterschwellig brodelte etwas. Ich hätte es nicht genau benennen können. Es war wie ein Abwarten, eine Vorahnung. Es machte mich nervös und gereizt. Diskussionen begannen schneller zu eskalieren, wir sagten Dinge die wir nicht meinten. Doch im Kern erschüttern konnte das die Beziehung nicht. Wir hatten lange gute Phasen und kurze schlechte. Trotzdem wollte das Gefühl nicht weichen. Waren es Zweifel? Nein, denn ich wusste, dass ich ohne ihn nicht sein konnte. Ich kam nicht darauf. Bis ich eines Morgens aufwachte und die Reißleine zog.
„Warum tust du das?“, „Was habe ich falsch gemacht?“ Ich weiß es nicht. Nichts.
Und ich wusste es tatsächlich nicht. Es war, als wäre ich fremdgesteuert. Ich wusste nur, ich musste es beenden. Sofort. Und schon tat ich es. Er bat und flehte, wollte mich nicht gehen lassen. Doch ich konnte nicht umkehren, es musste so sein.
Dann kam der Schmerz. Dunkelheit.
Es überrollte mich, rang mich zu Boden. Nie wieder habe ich einen vergleichbaren Schmerz gefühlt. Weder physisch noch psychisch. Meine Brust drohte zu bersten, mein Herz stand in Flammen. Tage und Nächte verbrachte ich gekrümmt und weinend im Bett. Mein Verstand folterte mich mit Fragen nach dem Warum und der Zukunft.
Nach Monaten des bloßen Überlebens kam die Verzweiflung wie sie wohl auch gelegentlich bei üblichen Beziehungsenden auftritt. Vielleicht ging es ihm ja genauso? Vielleicht konnten wir dem Zustand ein Ende setzen und es noch einmal versuchen? Ich nahm all meine Kraft und meinen Mut zusammen und sprach mit ihm. Doch er wollte mich nicht.
Ich war fassungslos. Ich wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte. Doch noch mehr traf mich die blanke Realität, in der er offenbar mit mir abgeschlossen hatte und sein Leben weiterlebte. Wie konnte das sein? Wie konnte er nicht so fühlen wie ich? Doch es ließ sich nicht ändern, betteln wollte ich nicht. Und so begann mein Leben allein.
Zunächst hing ich in einer Schleife aus Schmerz und Gedanken. Ich träumte von der Vergangenheit, ob schlafend oder wach. Ich stellte mir die Frage, ob das alles „normal“ war. Empfand jeder Mensch während einer Beziehung und Trennung so? Konnte das überhaupt sein?
Im Alltag stand ich neben mir. Mit Freunden sprach ich wenig darüber. Und wenn doch, dann stundenlang und mit vielen Tränen. Da ich niemandem auf die Nerven gehen wollte, begann ich Tagebuch zu schreiben. Viele Stunden am Tag vergrub ich mich darin und las die Einträge immer wieder. Ich wollte nur Verstehen und Überstehen. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass das jemals möglich sein sollte.
Heute, 10 Jahre später, habe ich es zumindest verstanden. Und dieses Verständnis sollte mein Denken in seinen Grundfesten erschüttern.
Ich traf eine Freundin, die sehr spirituell lebt. Wir unterhielten uns über verschiedene Themen der Spiritualität, die mich, mit meinem gnadenlosen Realismus, zum Schmunzeln brachten. Doch ein Punkt ließ mich aufhorchen.
Sie berichtete mir vom Phänomen der Dualseele: Eine Seele kommt auf die Erde und wird dabei in zwei Hälften gerissen. Beide Hälften „bewohnen“ einen Menschen und streben danach, wieder vereint zu werden. Den beiden Personen ist es unweigerlich vorbestimmt, im Leben aufeinanderzutreffen. Die Beziehung, in der sie dann zueinanderstehen, kann ganz unterschiedlich sein. Sie können Freunde, Geschwister, Verliebte oder sogar Elternteil und Kind sein.
Die Seelenteile ergänzen sich gegenseitig in Perfektion, was die Begegnung umso unbeschreiblicher macht. Jedoch können leicht Spannungen entstehen. Durch die Teilung der Seele besitzt jeder Part Eigenschaften, die der jeweils andere nicht haben kann. Beide werden mit ihren eigenen Schwächen konfrontiert und bisher ungeahnte Herausforderungen werden sichtbar. Solch eine Begegnung über eine lange Zeit aufrechtzuerhalten erfordert ungeheure Kraft.
Eine Kraft, die ich nicht hatte.
In den letzten Jahren lebten wir beide unser Leben weiter. Unabhängig voneinander sollte man meinen, doch ich denke, das werden wir nie sein. Man sagt, Dualseelen stoßen immer wieder aufeinander. Wenn beide ihre Lebensaufgabe, ihre Herausforderung bewältigt haben, ist sogar ein Kontakt ohne Spannungen möglich. Die Seele kann wieder eins werden.
Aber selbst wenn es nie dazu kommt, hoffe ich, er gibt gut Acht auf seine Seele.
Denn es ist auch meine.
Jule Lange
Aufgewachsen bin ich in Köln und Magdeburg. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter. Mit meiner Familie lebe ich in meiner Wahlheimat Nordfriesland. Neben meinem Psychologiestudium verbringe ich gern Zeit am Meer oder lese bei einer Tasse Kaffee ein gutes Buch.
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