Am Anfang war es still

Liam Ziebur für #kkl27 „Lostlassen, Weglassen, Unterlassen“




Am Anfang war es still

Am Anfang war es still. Und die Stille blieb. Sie zog sich in jede noch so kleine Ritze hinein, bis sie nicht nur diesen Raum, sondern auch alle angrenzenden vollständig ausfüllte. So sehr, dass selbst die kleinste Nadel, die auf den Boden fiel, klang wie eine ohrenbetäubende Explosion. Die Stille wurde zur Wand, die die Räume mit Zement auskleidete. Niemand wagte es, sich zu bewegen, aus Angst einen wahren Sturm heraufzubeschwören. Niemand wagte es, sich zu bewegen, aus Angst sich und andere zu verletzten, bis sich niemand mehr bewegen konnte und alles im stillen Zement steckenblieb. Jeder versuchte sich kleiner und kleiner zu machen, um vollständig in der Stille zu verschwinden, bevor sie einen erdrücken konnte. Immer mehr fanden den Weg hinaus – kleine Risse im Beton, durch die sie, sich unendlich langsam bewegend, hindurchquetschen konnten, bis sich die Luft von draußen in ihre Lungen presste und sie den ersten freien Atemzug in Ewigkeiten nehmen konnten. Die Welt stürzte wieder auf sie ein, so überfordernd und erdrückend, wie sie es zuvor schon immer gewesen war. Trotzdem kam keiner von ihnen wieder. Irgendwann blieb ich allein in der Stille zurück, haltlos, zukunftslos, verloren. Oder hatte ich mir die Menschen um mich herum nur eingebildet?

Das Klicken meiner Augenlider, das Rascheln der Wimpern aufeinander war beinahe schon zu viel für mich. Aber ich fühlte eine neue Energie, einen neuen Antrieb, den ich eigentlich schon längst vergessen zu haben glaubte. Ich konnte nicht einmal sagen, woher sie kam. Schließlich war ich allein und selbst die Staubpartikel in der Luft um mich herum schienen sich langsamer zu bewegen, als sie es gewohnt waren. Ich war doch glücklich, oder nicht? Ich hatte mich mit der Einsamkeit angefreundet, mit der Stille, mit der Unbeweglichkeit. Es war sicherer so. Ich fühlte mich sicher. Mir konnte nichts passieren, nichts Unerwartetes, nicht Schmerzhaftes.

Nichts Positives.

Diese kleine, zarte Stimme in meinem Hinterkopf verlor schnell ihren gesamten Elan. Sie war erst seit kurzem da und ich begann mich zu fragen, ob die anderen sie auch gehört hatten. Zu sehr auf sie gehört hatten, nur, um zu entdecken, dass ihre Zartheit, ihre Sanftheit ein Deckmantel waren. Die eigentliche Intention war eine viel heimtückischere. Sie lockte heraus, ins Freie, mit leeren Versprechungen. Und hörte dann seelenruhig zu, wie die Welt ihre zerstörerische Kraft wirkte.

Das dachte ich zumindest. Warum sonst war nie jemand wieder zurückgekommen? Wenn es schon so qualvoll war, den eigenen Atem in Nase und Lunge rauschen zu hören…wie musste dann erst die Welt da draußen sein? Natürlich kam niemand zurück, weil es sie nicht mehr gab – nun war ich endgültig allein. Zu Anfang, als ich gehört hatte, wie sie nach und nach gingen, wollte ich sie aufhalten, ihnen hinterherschreien, bei mir zu bleiben. Aber ich konnte nicht. Die Stille hielt mich auf. Bis ich den kleinen Finger bewegt hatte, um die Hand zu heben, war es bereits vorüber. Dann hatte ich noch die Hoffnung, sie kämen bald zurück. Doch niemand kam und ich gab die Hoffnung auf.

Stattdessen kam mich diese kleine, zarte Stimme immer häufiger besuchen. Die Stimme, die mir sagte, es könne da draußen nicht so schlimm sein, wie hier. All die Bewegung, all das Chaos – wie war das schlimmer als dieser ewige Stillstand? Wo war da der Unterschied zwischen lebendig und tot? Nein, wollte ich schreien. Nein, sei ruhig. Nichts davon kann stimmen! Chaos führt zu Verlust, Chaos führt zu Schmerz, Chaos…Chaos war so unberechenbar, wie sollte ich da wissen, wohin ich gehen sollte? Wo es sicher war zu bleiben? Wenn das Leben war…dann war es vorüber. Nein, dann möchte ich es nie gelebt haben. Nein, am Anfang war es still. So hat mein Leben begonnen und so möchte ich das es bleibt. Das nenne ich Leben. Ich wiederholte und wiederholte diese Sätze. Immer und immer wieder. Aber ein Rest Zweifel blieb.

Und dann fand ein Sonnenstrahl, völlig unerwartet, den Weg durch das Fenster und erschuf einen warmen Fleck auf meinem Gesicht. Ich schloss die Augen, genoss die Wärme und die Hoffnung war wieder da. Doch ein rhythmisches Pochen setzte ein, das leise begann und immer lauter wurde. Ich wollte in Panik verfallen, denn dies konnte nur eines bedeuten: Sie kamen, um mich zu holen. Sie hatten mich verraten und kamen, um die Stille zu beenden. Aber die Panik blieb aus, wurde zurückgedrängt von der leisen Stimme. Meine Augenlider klickten schnell, mehrfach hintereinander und es erschien mir nur noch halb so laut, wie zuvor. Das Pochen kam näher, aber ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ich war nicht nur wie erstarrt, ich war eingefroren. Die Wärme auf dem Gesicht vertiefte die Kälte in meinen Knochen, meinen Gliedern noch mehr. Ich war hin- und hergerissen. Sie kamen an die Tür, sie kamen durch die zementene Stille, durch den Raum zu mir. Zu schnell, zu viel, zu…überwältigend. Die Geräusche von zu vielen Füßen, Händen, Kleidungsstücken, Atemzügen, Herzschlägen und Stimmen bildeten einen Klangteppich, der mich zu ersticken drohte.

Aber eine Stimme stach so stark heraus, so stark, dass sie sich mehr oder weniger in meine Erinnerung eingebrannt hatte. Die Stimme, die ich so verzweifelt versucht hatte, zum Schweigen zu bringen…das war keine innere Stimme gewesen. Jetzt erinnerte ich mich. Es war die Stimme von der ersten und letzten Person, die immer an meiner Seite, in meiner Umgebung gewesen war. Die mit mir zusammen all die Zeit in der Stille verbracht hatte und nun versuchte, mich genau daraus zu befreien. Ich musste zurück, ich musste…es darauf ankommen lassen, oder? Darauf vertrauen, dass sie mich auch hierdurch begleiten würde. Langsam, unendlich langsam bewegte ich einen Finger, dann einen zweiten, dann eine Hand. Ich fühlte mich, als würde ich aus tiefstem Wasser auftauchen.

Am Anfang war es still. Dann wurde es einsam. Und als es einsam wurde, verlor ich alles. Als ich alles verloren hatte, brauchte es den lang vergessen geglaubten Mut, um die vermeintliche Sicherheit hinter mir zu lassen, mich ins Leben zurückzuholen und im Chaos zurechtzufinden.




Liam Ziebur

Geboren 1992, lebt seit 2014 in Oldenburg. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bremen, fing er schon früh an, kürzere Geschichten und Gedichte zu verfassen. Innerhalb des Studiums wurde das Interesse am kreativen Schreiben neu geweckt und brachte eine Reihe von Texten zustande. 2019 belegte er (noch unter anderem Vornamen) mit Der Spiegel den zweiten Platz bei der Ausschreibung Bleib‘ cool, Schätzchen. 2020 wurde die Szene als Teil eines abendfüllenden Theaterstücks in Brixen (IT) aufgeführt. 2021 wurde der Text Kredithaie aus den Einsendungen der Doppelausschreibung Krasse Kohle / Klamme Kasse für die Veröffentlichung im Magazin Nr. 11 & 12 / 2021 von zugetextet.com ausgewählt. Aktuell arbeitet er an seinem Debütroman.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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