Timea Bayer für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Es ist alles nur ein Spiel
Sie hatte es immer noch nicht verstanden. Was passiert war. Neben ihr am Steuer saß Chris und starrte konzentriert auf die Straße. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, er wäre nicht mitgekommen. Doch das vorsichtige Lächeln, mit dem er sie bedachte, ließ sie sich ein klein wenig entspannen. In dem Brief, der vor ein paar Tagen in ihrem Briefkasten gelegen hatte, stand, sie hätte von ihrer Oma geerbt. Dass es überhaupt noch einen Menschen in ihrer Familie gab, der sie noch nicht aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte, war wie ein schlechter Scherz. Ihr entwich ein Seufzen und sie starrte in die vorbeiziehende Landschaft.
Alles an diesem Ort war schon verloren. Die Gesichter waren ausdruckslos, eingefallen, genauso wie der dreckige Putz, der stetig von den Hauswänden bröckelte. Die Straßen waren leer und uneben. Sie fuhren an einem Plakat vorbei, das Gesicht ihres Onkels sprang ihr entgegen. Möbelhaus Kallert. Qualität zum rechten Preis. Sie schluckte. Hier waren die Machtverhältnisse eindeutig. Ihrer Familie gehörten die zwei bedeutendsten Unternehmen der Umgebung. Denn wenn etwas ihrer Familie jemals wirklich wichtig war, dann war es Geld. Hier war sie eine Aussätzige auf fremdem Gebiet. Sie hatte es Mal Heimat genannt, aber es war nur noch ein grauer, namenloser Schatten, der sie manchmal in ihren Gedanken heimsuchte.
Sie waren am Haus vorbeigefahren. Eigentlich dachte sie, sie würde es wiedererkennen, die gelblich-braun verfärbte Wäscherei und das mintgrüne Haus. Doch es stach ihr ins Auge wie ein Fremdkörper. Nichts ähnelte den farbenfrohen Erinnerungen, die in unachtsamen Momenten durch ihren Kopf sprangen. Hier war alles grau. Als wäre die Zeit irgendwann mal stehengeblieben und nie mehr weitergelaufen.
Ihr Onkel war Familienoberhaupt. Seit sie denken konnte, wohnte er in diesem Haus und hielt von hier aus die Familie zusammen, oder fällte Urteile, wer die Familie verraten hatte. Doch eigentlich war er nur ein Gast in diesem Haus. So wie sie nur ein Gast war in dem Ort, den sie einst Heimat genannt hatte.
Jetzt kam er mit schweren Schritten auf sie zu, in seinen grauen Augen tobte ein Inferno.
„Was willst du hier?“, spuckte er ihr entgegen, sein Blick durchbohrte sie. Chris neben ihr richtete sich auf. „Es kam ein Brief.“ Wie sehr sie sich hasste, dass ihre Stimme genauso zitterte wie früher. Weil sich das Feuer nicht legte, reichte sie ihm dem Brief. Sie fühlte Chris´ Hand in ihrem Rücken. Die Finger ihres Onkels gruben sich wie Krallen um das Papier, das sich ächzend unter seinem Griff bog. „Warum hast du ihn nicht ignoriert?“ Das Feuer war fürs erste verglüht. Sie blinzelte, ungläubig über seine Worte. „Sie war meine Oma“, hauchte sie fast tonlos. „Du hattest es auch nicht nötig zu ihrer Beerdigung zu kommen. Warum jetzt?“ Ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten, ihre Fingernägel gruben sich tief in die weiche Haut ihrer Handflächen. „Ich wusste nicht mal, dass sie gestorben war!“ Ihre Stimme erstickte beinahe unter den aufsteigenden Tränen. Ihr Onkel schnaubte nur und sein Blick glitt zum ersten Mal zu Chris. Ein undefinierbarer Ausdruck trat in seine Augen. „Wenigstens bist du nicht allein gekommen.“ Er drehte sich um, der Brief fiel achtlos zu Boden.
Sie folgte ihm ins Haus. Vor der schwarzen Eingangstür, die ihren bedrohlichen Schatten über sie legte, hielt Chris ihre Hand fest und sie stockte. „Geh da nicht rein.“ Seine Stimme war heiser von der Sommerluft. Sie musterte sein kantiges Gesicht. „Warum nicht?“ „Du hast gesagt du willst Frieden. Damit abschließen. Da drin“, er deutete auf das Wohnhaus, „da findest du keinen Frieden. Bitte, lass uns einfach heim gehen. Egal was sie dir vererben könnte, es ist es nicht wert. Bitte.“ Seine Hände umschlossen ihre, ein warmes Kribbeln durchfuhr ihre Haut. „Du wolltest es doch hinter dir lassen. Damit abschließen, all das hier loslassen.“ Sie schluckte hart, doch der schwere Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, ließ die Worte nicht aus ihrem Mund kommen. Sie blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen. Nach Hause gehen. Dabei hatte sie gehofft, sie würde diesen Ort als ihr zu Hause wiedererkennen. Würde hier an der Tür stehen und das gleiche Gefühl verspüren, das sie in den Augen all ihrer Cousins und Verwandten gesehen hatte. Das Gefühl ein Teil dieser Familie zu sein. Doch das Einzige, das sie spürte, war Leere. Die Leere, die sie an das erinnerte, das sie verloren hatte. Sie wand sich aus seinem Griff. „Ich glaube, ich muss das selbst rausfinden.“ Er seufzte und ließ seine Hände sinken. „Ist gut. Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst.“ Sie versuchte zu lächeln und wendete sich der Haustür zu. Als die schwere Tür hinter den beiden ins Schloss fiel, fühlte sie sich wie in einem Käfig. Sie war zurück. Zurück auf dem Spielfeld, auf dem sie nichts weiter als ein unbedeutender Bauer war.
Der ganze Raum wurde totenstill, als sie sich an den langen Tisch setzte. Die Blicke, die die anderen ihr zuwarfen, waren eindeutig. Der Notar ließ seinen Blick durch die Runde schweifen. Vor ihm auf dem massiven Tisch lag das Testament. Sie schluckte, fixierte den Stapel Papiere. „Mein Beileid an alle Anwesenden.“ Sie nahm die Worte kaum wahr. Ihr Onkel musterte sie mit kaltem Blick. „Ich werde nun das Testament verlesen. Es wurde bereits als rechtmäßig erklärt. Anfechtungen können Sie über Rechtswege nach der Verlesung gültig machen.“ Als er anfing zu lesen übertönte ihr rasendes Herz alles. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Oma etwas für sie übrighätte. Nicht nach all den Jahren, in denen niemand mit ihr sprechen wollte. Denn die Entscheidungen ihres Onkels galten für jeden. Und mit Verrätern wollte niemand in Verbindung gebracht werden. Nicht einmal ihre Oma.
„Nein!“ Als die dröhnende Stimme ihres Onkels an ihr Ohr drang, zuckte sie zusammen. Seine hölzernen Stuhlbeine kreischten über die Kachelfliesen, als er aufsprang. „Du“, knurrte er, sein Zeigefinger richtete sich bebend auf sie. „Du bist nichts weiter als eine dreckige Verräterin. Du hast uns alle verraten! Und sie war einfach schon zu alt, um das zu begreifen!“ Seine Stimme überschlug sich beinahe. Das Inferno in seinen Augen loderte heller denn je. „Du bekommst das Haus nicht! Lieber zünde ich es an!“ Jede Zelle in ihr gefror zu Eis, während er aus dem Zimmer stürmte. Chris umklammerte ihre Hand. Die Stille, die sich im Esszimmer breit machte, erdrückte sie fast. Sie räusperte sich und schob langsam ihren eigenen Stuhl zurück. Als Chris auch aufstehen wollte, schüttelte sie bloß den Kopf. Sie lief ihrem Onkel nach.
Er lehnte draußen an der Hauswand, dicker, weißer Qualm hüllte ihn ein. Früher hatte sie versucht ihm das auszureden. Rauchen war krebserregend. Doch ihr Onkel rauchte nur, wenn er wütend war. Und bis sie das begriffen hatte, hatte sie sich einige Backpfeifen eingefangen.
„Ich wusste nicht, dass das passieren würde. Dass sie mir ein Teil des Hauses und der Wäscherei gibt.“ Sie fühlte sich wieder wie das kleine zwölf-jährige Mädchen, das unter dem brennenden Blick beinahe verglühte. Er schnippte die abgerauchte Zigarette auf die bemoosten Terrassenfliesen. „Was muss ich tun, damit du endgültig verschwindest?“ Sie zuckte zusammen. „Weißt du was? Ich gebe dir deinen Erbanteil, in Bar. Noch heute Abend.“ „Aber“, setzte sie an, doch sein Blick brachte sie zum Schweigen. „Wir haben ausgemacht, dass du nie wieder kommst. Nur deswegen habe ich dir geholfen.“ Sie versuchte die Tränen, die schon wieder in ihre Augen stiegen, zu unterdrücken. Obwohl sie immer dachte, dass ihr Onkel sie von all ihren Verwandten am meisten hasste, hatte sie ihm ihre Freiheit zu verdanken. Er hatte ihr einen Job und genug Geld für eine Wohnung besorgt. Und die einzige Bedingung, die er ihr gestellt hatte, war, dass sie nie wieder zurückkommen würde. Das war das kleine Geheimnis zwischen den beiden. Er sah in ihr etwas, das keine Verachtung war. Und sobald sie allein waren, war ihr Onkel kaum mehr wie der Mann, der sie angebrüllt hatte, dass sie eine Verräterin war.
„Ich kann das Geld nicht nehmen“, flüsterte sie. „Ich kann dir nicht noch mehr schulden.“ Sie schluckte. Und außerdem ist das meine Heimat.“ Er packte sie an den Schultern und presste sie gegen die kalte Hauswand. „Nein, ist es nicht! Schau dich doch um, sie hassen dich! Du gehörst nicht hierher. Sie werden dich zerfleischen, wegen deinem Anteil, du weißt doch wie sie sind. Sie werden dir keinen Cent davon gönnen.“ Auf einmal wurden seine verzerrten Gesichtszüge wieder glatt und der Ausdruck in seinen Augen sanft. Er ließ viel zu selten seine Maske fallen, als dass sie ihn wirklich durschauen konnte. „Du hast die Chance endlich frei zu sein. Das wolltest du doch immer. Du musst endlich loslassen.“ Sie konnte die Tränen nicht länger halten. Ihr Onkel ließ sie los. Sie sackte in sich zusammen, lehnte sich gegen die Wand. Ihr Blick schweifte über den verwilderten Garten. Früher hatte sie sich im Hasenstall, ganz hinten, neben den überwucherten Beeten immer versteckt, wenn es im Haus nicht mehr auszuhalten war. Ihre Oma hatte ihr immer die Gartenabfälle überlassen, damit sie die Hasen füttern konnte. Jetzt waren die Hasenställe leer. Irgendwann hatte ihr Onkel beschlossen, dass ihre Oma nicht mehr fähig war sich um sie zu kümmern. Danach gab es einmal im Monat Hasenbraten. Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, betrachtete wie sie langsam über ihren Finger rollte. Es war nichts wie in ihren Erinnerungen. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das Trost im goldbraunen Fell der Hasen gesucht hatte. Der Zorn ihres Onkels war nicht mehr so berechenbar und von kurzer Dauer, wie er es früher gewesen war. Die Spielregeln bestanden längst nicht mehr aus ein paar kleinen Lügen, ein bisschen Betrügen, ein bisschen Herumschreien. Irgendwann hatte sie aufgehört das Spiel zu verstehen.
Sie schüttelte den Kopf und schaute ihren Onkel an. „Wann sind wir so geworden?“ Diese Frage quälte sie schon, seit sie aufgehört hatte wie ein Kind zu denken, doch ihr hatte immer der Mut gefehlt sie lautauszusprechen, zu groß war die Angst vor der Antwort. Sie hörte ihn ausatmen, sein Körper bebte. „Jede Familie hat ihre Abgründe. Und unsere sind so tief, dass nicht mal ich bis auf den Boden sehen kann.“ Zum ersten Mal hörte sie seine Stimme zittern. Ein trüber Unterton mischte sich unter seine Worte. Bedauern. „Ich dachte es würde reichen dir Angst zu machen. Aber ich sage es dir jetzt aus all der Liebe, die in dieser Familie nicht existiert. Lass los, und komm nie wieder. Du bist dem hier nicht gewachsen. Und das ist gut so.“ Sie blinzelte, die Tränen in ihren Augen versiegten. Sie hatte schon vor drei Jahren gewusst, dass er sie beschützen wollte. Vor den anderen, vor sich selbst, vor diesem Ort, der sich kein bisschen verändert hatte.
Also folgte sie ihrem Onkel zurück an den Tisch. Sobald Chris ihr Gesicht sah, sprang er auf, das Inferno hatte offenbar auch ihn angesteckt. „Was haben sie zu ihr gesagt?“, fauchte er ihren Onkel an und stellte sich vor sie. „Haben sie ihr gedroht?“ Sie wollte ihn beschwichtigen, doch jemand kam ihr zuvor. „Du hast kein Recht, dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen, Junge.“ Die Worte trafen sie wie ein Blitz und ihr Kopf fuhr nach oben. Ihre Mutter. Ihr Herz rutschte ihr in die Hose. Sie stand in der Tür, die blonden Locken waren stumpf geworden, in den letzten drei Jahren. Die Augen, so kalt und klar wie Eis starrten ihr entgegen, mit einem Ausdruck, der ihre Knie zittern ließ. Die Stimme kam ihr fremd vor. Wie alles andere auch. Sie hatte ihren Modegeschmack verändert. Keine bunten Farben mehr, nur noch grau. Damit verschmolz sie besser mit der Umgebung. Und der Blick ihrer Mutter, der sie immer noch gefangen hielt, verriet ihr, dass auch sie ihre eigene Tochter kaum wiedererkennen konnte.
„Du hättest nicht kommen brauchen.“ Ihre Zähne knirschten, als müsste sie ihre ganz Kraft aufbringen, um ihr nicht ins Gesicht zu brüllen. „Du bist kein Teil dieser Familie mehr.“ Sie hatte sich das Wiedersehen mit ihrer Mutter oft vorgestellt. Doch jetzt konnte sie nichts sagen. Die Worte zerfielen ihr im Mund zu Asche. Sie konnte nicht mehr atmen, ihr Blick schnürte ihr die Kehle zu. Sie griff nach Chris´ Arm und er drehte sich zu ihr um. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Onkel ihre Mutter packte, seine Lippen bewegten sich schneller, als sie ihnen folgen konnte. Ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben, und sie krallte sich an ihren Freund. Sie war kein Teil dieser Familie mehr. Sie war kein Teil mehr von Mutter-und-Tochter-gegen-den-Rest-der-Welt. Sie war nur noch eine Fremde. Ihr Onkel schob ihre Mutter in den angrenzenden Raum, als sie endlich ihre Stimme wiederfand. „Warte. Ich will das Erbe nicht! Darum geht es hier doch. Ich trete es ab. Alles. Den Anteil am Haus und an der Wäscherei.“ Alle wurden mit einem Mal still und starrten sie an. Sie atmete bebend aus und trat vor ihren Freund. „Ich will keinen Streit mit euch. Ich… Ich lasse euch los.“ Sie hatten Recht gehabt. Chris, ihr Onkel. Es wurde Zeit loszulassen. Sie waren verloren. Ihre Familie. Alles war nur ein Spiel aus Lügen und Verachtung und es war gut gewesen, dass sie das Spielfeld verließ. Endgültig.
Ich heiße Timea Bayer, bin 19 Jahre alt und studiere seit Oktober „Kreatives Schreiben und Texten“ in Berlin. Neben Projekten, wie Kurzgeschichten und Gedichten, arbeite ich an einem eigenen Romanprojekt.
Dies ist mein erster Wettbewerb außerhalb der Universität. Ich bin sehr dankbar über die Chance eigene Werke nach außen zu tragen und freue mich, dass sie diese Geschichte von mir lesen werden.
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