Ingrid Maestrati für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Eine Reise nach innen
Hugo saß unter einer Palme, in tiefe Meditation versunken. Anfangs zählte er noch beim Ein- und Ausatmen, aber dann erhob sich sein Geist. Er sah von oben auf sich herab und sein Atem wurde kürzer. Kleine, mittlere und größere Sünden fielen ihm ein.
„Alles kommen und gehen lassen“, hatte sein Guru gesagt. Konzentration nannte man das, diese heitere Gleichmut und die Fähigkeit, sich von unliebsamen Gedanken nicht durcheinanderbringen zu lassen.
„Die Gier“, hatte der Guru immer wieder gerufen, wenn die Schüler langsam einschliefen. Gier auf was? – auf Anerkennung, Freundschaft, Charakterstärke, Reichtum…. Hugo wollte einfach ein toller Hecht sein und vor lauter Gefallen wollen übertrieb er und merkte nicht, dass andere sich zurückzogen oder ihn sogar mieden. Jetzt musste er seinen Atem wieder abzählen. Dieser Gedanke war beängstigend.
Gier, das war oft bewusste Bosheit, aus Rachsucht für die Zurückweisungen. Dann wurde er immer ausfällig gegen andere und wollte besser sein als sie, weil er sein schlechtes Gewissen nicht aushielt und andere für alles verantwortlich machte.
„Also, mein lieber Hugo“, flüsterte er sich selber zu, „jetzt steh mal gerade für dich und dabei musst du dich selber loslassen,“ Er sah sich schon in eine tiefe Grube fallen, aber nichts geschah. Kein Fallen, kein Schweben. Er saß einfach da und die Knochen taten ihm weh vom Lotussitz.
Das Abschiednehmen von sich selbst. Musste er dabei über den Grubenrand nach unten blicken? Nein, nichts geschah. Er hatte als Belohnung eine Erhebung erwartet, die ebenfalls ausblieb. Nichts. Einfach nichts.
Irgendwo, ganz weit weg, sah er sich als nacktes Kind, neugeboren. Er schrie und die Hebamme sagte, das sei ein gutes Zeichen und bei seiner kräftigen Stimme würde er es weit bringen.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Er hatte Karriere gemacht mit seinen Ellbogen und viel Arbeit. Und jetzt sollte das nichts mehr wert sein? „Loslassen Hugo“, wiederholte er. Nichts wurde ungeschehen gemacht, gerade das nicht.
„Dein Egotrip und die Angeberei auf Kosten anderer war schon sehr schräg“, hatte ihm der Guru gesagt. „Arbeiten ja, aber lass in Zukunft das Heruntermachen der anderen weg.“
„Geläutert“, hieß das früher im Religionsunterricht. Sein Herzschlag ging schneller. Er hatte sich gerade selbst ertappt. Und jetzt hatte er eine unbändige Lust, sich zu kratzen – abzulenken, um diese Gedanken zu verdrängen. Nein, das war kein Kommen- und Gehenlassen, sondern das Gegenteil.
Er sah auf. Der Guru stand vor ihm, lächelte und sagte nichts. Das war besser so. Jetzt auch noch belehrt werden vor anderen hätte seine Wut auf sich selbst wieder nach außen geleitet. Dann wäre er wieder der alte Rohling geworden. Also lächelte er süßsauer zurück und schloss die Augen.
Irgendwann würde das Erinnern nicht mehr weh tun, dachte er. Das stand in vielen Texten, die er gierig verschlungen hatte. „Gierig“, wiederholte er. Diese gottverdammte Gier machte selbst vor dieser Lektüre nicht halt.
„Bücher verschlingen“, fiel ihm ein, Hinunterschlucken und dann sein Davonrennen beschönigen? Da wäre er ja so ein Theaterapostel geworden, mit vollen Audienzen, der dem erstaunten Fußvolk die Ohren volldröhnt? „Nein, das nicht“, rief er halblaut und die anderen Meditierenden im Halbkreis blickten kurz auf. Das wäre ja wieder der alte Dreh gewesen: andere bekehren, statt sich selbst infrage zu stellen. Immer alles Ungemütliche nach außen verteilen – auf die armen, unbekehrten Sünder – eine neue Lebenslüge.
Hinunterschlucken und verdauen. Es gibt doch zwei verschiedene Arten, zu verdauen: Ideen reif werden lassen und mit anderen Gedanken verknüpfen, oder sie langsam im geistigen Magensaft aufzulösen. „Ätzend“, fiel ihm dazu ein. Das war für die Hartgesottenen.
Und die praktischen Folgen?
„Nur nicht durchdrehen“, sagte er sich, als er an die Mönchsverkleidungen mancher Anhänger dachte. „Und betteln gehen sie auch noch, diese Faulenzer“. Und dann der Handel mit den Räucherstäbchen und asiatischen Dingen – schöne Dekoration, ohne Verpflichtung. Das wars nicht. Und auch nicht die ‚du sollst‘ Fanatiker, konvertierte Streißtrommler und sonstige Übermenschen.
Aber war er nicht früher selber ein Übermensch gewesen? „Irgendwann muss ich in der Mitte landen“, sagte er sich, „keine Hoch- und Tiefakrobatik“.
„Also in Zukunft die Übermenschen weglassen“, dachte er. Jeder wollte jeden übertreffen, alles war zu dick aufgetragen. „Schein statt Sein“, hatte der Guru angedeutet. Damit fiel auch die eigene Angabe weg. Er war wieder ein normaler Sterblicher.
Ein Gong ertönte, die Meditation war beendet.
Später, bei einer Gruppensitzung, wurde das Thema der Verhaltensänderung wieder aufgenommen.
„Aufmerksamkeit“, sagt Leni, „sich selbst und anderen gegenüber und erst einmal bei sich selber anfangen.“ Das war richtig.
„Emotionen binden uns an alte Gewohnheiten“, bestätigte der Guru, „da entwickeln wir uns nicht mehr weiter. Es gibt nur noch den Schlagabtausch und eingefahrene Muster“.[1]
„Aber kritisieren wird man wohl noch dürfen“, warf Hugo ein. „Es gibt Unterlassungssünden, wo wir uns manipulieren lassen, aus Angst, Probleme zu benennen und Konflikte auszutragen.“
Betretenes Schweigen. Mit Heiligkeit allein war es nicht getan.
„Geradestehen statt Prahlen und ruhig bleiben. Die Dinge sagen, ohne zu verletzen“. Karin sagte das ganz bestimmt. „Wir müssen unter uns ehrlich bleiben können und das heißt, dass wir uns alles sagen können, ohne dass jedes Mal die Welt untergeht.“
„Das wars“, dachte Hugo. „Sagen, was ist, mit Humor, ohne zu beleidigen oder herrschen zu wollen und andere zu Wort kommen lassen“. Aber so etwas funktioniert doch nur, wenn andere auch ähnlich denken?
„Gewalt bringt schnelle Erfolge“, hörte er jetzt den Guru sagen. „Der Mächtige behauptet, die Wahrheit zu vertreten und setzt seine Meinung durch“. Und dann kam er, Hugo, und sagte ihm höflich, er sei auf dem falschen Dampfer? Nicht auszudenken. Allein gegen alle anderen anzugehen war keine Lösung. Und laute, aufgehetzte Massen schreckten ihn ab. Nein, es bedurfte einer Vielzahl von Einzelnen und echter Autorität mit Freiräumen, zum Fragenstellen und Weiterdenken. Daraus konnten soziale Bewegungen entstehen. Das war sicher schwierig, aber möglich. Er dachte an Gandhi.
[1] Thich Nath Hanh: Nimm dein Leben ganz in deine Arme, DTV 2006

Ingrid Maestrati
F 9542 VAUCRESSON, Jahrgang 1945. Mehrere Lebensphasen: Anfangs ausgedehnte Reisen als Schiffsoffizier und Auslandsaufenthalte in Myanmar und Paris über das Auswärtige Amt. Dann Studium und Arbeit als Psychologin in Paris, in der Industrie und bei Gerichten. Nach meiner Pensionierung: ein französisches Sachbuch in Arbeit und Kurzgeschichten. Mein Buch: UNTERWEGS – Erinnerungen, ISBN 978-3-03883-084-9, 2019
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