ÜberLeben

Alien für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“




Achtung: Folgender Text setzt sich mit Suizidgedanken auseinander. Es werden keine konkreten Suizidmethoden thematisiert, allerdings werden die Gefühle, welche bei mir diese Gedanken ausgelöst haben deutlich beschrieben. Wenn du dich unwohl mit diesem Thema fühlen solltest, empfehle ich dir diesen Text nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zu lesen.





ÜberLeben

Mit 17 Jahren habe ich mit meinem Leben abgeschlossen. Für mich stellte sich nicht mehr die Frage, ob ich meinem Leben ein Ende setzen würde – sondern lediglich wann.
Mein Alltag bestand aus purem Überleben. Ein täglicher Kampf gegen eine schier unendliche Masse an emotionalen Schmerzen: Schuldgefühle. Angst. Einsamkeit. Leere. Taubheit.
Innerlich war ich längst kein Teil des Lebens mehr.

Mit 17 Jahren habe ich mit meinem Leben abgeschlossen. In den darauffolgenden Jahren war jeder Tag eine einzige Qual. Ich hangelte mich von Tag zu Tag; klammerte mich an Verpflichtungen, welche mich Dank meines Verantwortungsgefühls davon abhielten meinem Leben ein Ende zu setzen.
Ich möchte ja keine Umstände verursachen.

Ich fand rationale Gründe, welche es mir verboten mein Leben zu diesem Zeitpunkt zu beenden. Ich hangelte mich von Verpflichtung zu Verpflichtung; wartete auf den perfekten Moment – ein Moment, der nicht existiert.

Ich bin das Problem. Ich schade meinem Umfeld. Ich bin das Problem. Sie sind ohne mich besser dran. Ich nehme zu viel Raum ein – Raum, der mir nicht zusteht. Ich bin das Problem. Ich nehme anderen Platz weg. Ich darf hier nicht sein. Ich muss verschwinden. Ich muss sterben.

Ich halte es nicht mehr aus.

Ich verbrachte Stunden damit die perfekte Suizidmethode zu finden- möglichst niemand Außenstehenden traumatisierten, möglichst effektiv und möglichst nichts, was ungewollte Konsequenzen im Falle eines fehlgeschlagenen Versuches mit sich bringen würde.

Irgendwann war ich mir sicher, wie mein Plan aussehen würde.

Mit 19 Jahren verfasste ich zahlreiche Abschiedsbriefe; ich legte mir eine Patientenverfügung zu, recherchierte über Beerdigungskosten und mögliche Lebensversicherungen.

Alles war erledigt.

Sämtliche Gedanken drehten sich um das Thema Tod und Sterben – ich sah zahlreiche Dokumentation über Sterbehilfe, Suizid und Trauer.
Ich war mir absolut sicher, dass es für mich keine Zukunft geben würde.

Innerlich war ich bereits tot.

Mein Leben war beendet – bevor ich überhaupt die Möglichkeit hatte es richtig zu leben.

Zwei längere Klinikaufenthalte schützen mich vor mir selber. Jahre der Therapie, Medikamente und Elektrokampftherapie halfen mir dabei langsam einen Weg zurück zu finden – einen Weg zurück ins Leben.
Irgendwann musste ich mir eingestehen, welche Folgen ein Suizid in meinem Umfeld anrichten würde. Folgen, über welche ich keinerlei Kontrolle habe. Die Suizidgedanken sind immer noch regelmäßig vorhanden, mittlerweile aber ohne Handlungsabsicht.
Ich verfalle jedoch wahnsinnig schnell wieder in den Strudel dieser Gedanken.

Wie schaffe ich es diese loszulassen?

Wie kann ich mich von solch einer Zeit erholen? Rein körperlich befand ich mich nie in einem lebensbedrohlichen Zustand. Ich habe es immer irgendwie geschafft nach Hilfe zu fragen; die Verantwortung abzugeben, wenn ich sie nicht mehr tragen konnte. So schlimm war es dann ja wohl nicht – oder?

Es war die Hölle.
Ich habe unfassbar viel Disziplin benötigt um Durchzuhalten. Durchhalten, bis der Tag zu Ende ist. Durchhalten bis ich schlafen kann. Durchhalten bis mein Körper endlich einschläft. Durchhalten.
Durchhalten.

Durchhalten.

Ich war mehrfach sehr kurz davor.

Während ich mich in der geschlossenen Kinder- und Jugendpsychiatrie befand, habe ich den Schutz dringend benötigt. Den Schutz vor mir selber. Auch wenn ich es versuchte, hatte ich hier keinerlei Möglichkeit mein Leben zu beenden.
Es war einerseits eine große Last, welche von meinen Schultern genommen wurde – mir wurde die Verantwortung für mein Leben abgenommen.
Andererseits war es aber kaum aushaltbar, dass mir die Möglichkeit genommen wurde, mein Leben zu beenden.

Meine Suizidgedanken haben mir eine gewisse Sicherheit gegeben. So grausam sie auch waren, gaben sie mir doch einen Ausweg. Sie gaben mir eine Art der Beruhigung. Ich wusste, dass meine Schmerzen ein Ende haben würden. Dass die schier unendliche Qual, welche das Leben für mich bedeutete, beendet werden würde. Dass ich den Zustand des Existierens verlassen würde. Leben erschien unmöglich. Der Zustand des puren Überlebens unaushaltsam. Der Tod gab mir Sicherheit.

Doch dann musste ich mir irgendwann eingestehen, dass dies keine Option ist. Ich kann nicht beeinflussen, wie meine Angehörigen trauern würden, wie sie meinen Tod verarbeiten würden. Ich kann meine Existenz nicht auslöschen. Ich habe nicht das Recht Ihnen ihr Kind, ihre Schwester oder Freundin wegzunehmen.
Ich darf nicht sterben.

Mit dieser Erkenntnis wurde mir die Sicherheit weggenommen. Mir wurde mein Ausweg genommen. Ich fühlte mich in diesem schier unaushaltbaren Zustand des Überlebens gefangen. Leben erschien mir absolut unerreichbar.
Ich war nicht mehr aktiv suizidgefährdet, doch ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr.

Und jetzt?
Wie setze ich ein Leben fort, was ich innerlich längst abgeschlossen habe? Wie schaffe ich es mich auf etwas einzulassen, was ich so lange als unmöglich angesehen habe?
Wie schaffe ich es mich einer immer stärker werdenden Angst zu stellen, vor einer Zukunft, welche so lange keine Option für mich war?
Wie schaffe ich es die Sicherheit loszulassen, welche mir die Endgültigkeit in meinen Suizidabsichten gegeben hat?
Wie stelle ich mich einem Leben, vor dem ich mich so lange versteckt habe? Wie verlasse ich diese Blase der vermeintlichen Sicherheit, welche mir diese Gedanken vorgegaukelt haben?
Wie stelle ich mich einem Leben, mit dem ich bereits mit 17 Jahren abgeschlossen habe?

Vielleicht geht es gar nicht darum loszulassen, sondern vielmehr zuzulassen.
Zulassen, dass ich immer noch lebe. Zulassen, dass ich keine Ahnung habe, was auf mich zukommen wird. Zulassen von Gefühlen, welche ich so lange nicht fühlen wollte. Nicht fühlen konnte.
Zulassen, dass es zunächst einmal schmerzhaft und unfassbar beängstigend wird. Zulassen, dass ich fühlen darf. Zulassen, dass ich leben darf.

Meine Erkrankungen sind nicht deswegen immer noch so ausgeprägt, weil ich sie nicht loslassen möchte, sondern weil ich sie unbewusst nutze, um emotionale Schmerzen nicht fühlen zu müssen. Verdrängen. Unterdrücken. Weglaufen.

„Aktuell geht es in der Therapie darum, dass Sie Ihre Emotionen erst einmal aushalten.“

In meinen tiefsten depressiven Episoden konnte ich meine Emotionen nicht spüren. Depressionen sind keine Traurigkeit. Ich war leer. Erschöpft. Das Einzige was ich fühlen konnte war Taubheit. Hoffnungslosigkeit. Erschöpfung. Vielleicht Verzweiflung. Ich habe nicht mehr gelebt – ich habe existiert. In diesen Zeite hab ich mir so sehr gewünscht fühlen zu können. Mich wieder als einen Teil des Lebens zu fühlen.

Mut 17 Jahren habe ich mit dem Leben abgeschlossen – nach über 5 Jahren lebe ich immer noch. 5 Jahre, die ich nie wollte – aber auch fünf Jahre voller neuer Erfahrungen.
Jedes Jahr, jeder Tag, jede Stunde in den letzten Jahren ist ein Bonus. Ich konnte mir nicht vorstellen zum jetzigen Zeitpunkt noch am Leben zu sein – es ist unfassbar beängstigend, es fühlt sich unwirklich an, doch es bedeutet nicht, dass ich es als etwas Negatives betrachten muss. Über einen langen Zeitraum habe ich es so betrachtet, als hätte ich mein Ablaufdatum überschritten. Als hätte ich nicht mehr das Recht dazu am Leben zu sein. Meine Lebenszeit war in meinem Kopf beendet – doch mein Körper atmet immer noch. 
Es ist eine Chance welche ich nie gesehen habe.

Hätte mir jemand vor 5 Jahren gesagt, dass ich etwas finden würde, wofür ich leben möchte und nicht nur etwas, was mich daran hindert mein Leben zu beenden, hätte ich diese Person wahrscheinlich freundlich auf das Angebot der benachbarten Stationen in der Psychiatrie hingewiesen.
Doch es gibt sie – die Momente in denen ich mich lebendig fühle. Schreiben. Arbeit mit Kindern. Tanzen.
Ich habe etwas gefunden, wofür ich leben möchte – und nicht nur etwas, was mich daran hindert zu sterben –  noch vor 2 Jahren undenkbar. Für mein 17 Jähriges Ich absolut unmöglich.

Mit 17 Jahren habe ich mit meinem Leben abgeschlossen. Fünf Jahre später kämpfe ich immer noch – doch ich kämpfe noch.
Ich habe die vergangenen Jahre überlebt.
Ich habe Momente in denen ich tatsächlich

Lebe.





Alien ist im Jahr 2000 geboren. Bereits in Ihrer Schulzeit entdeckte sie ihre Liebe zum Schreiben – hier hat sie eine Möglichkeit gefunden, ihre Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen in künstlerischer Form zu verarbeiten. Mit ihren Texten möchte sie das Tabu, welches immer noch rund um das Thema mentale Gesundheit herrscht, brechen und Aufklärung betreiben.

Interview mit Alien zum Thema: Raus aus dem Dunklen im Format DerZeit – Format für eine bewusste Zeit HIER







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Ein Kommentar zu “ÜberLeben

  1. Liebe A. Lien,
    Ich wünsche dir von Herzen, dass du es schaffst, dem Leben etwas Schönes, Buntes, Sinnreiches abzuringen. Ich bin heute 60 und kenne das Gefühl..ich will nicht mehr leben, allzu gut.
    Der Kampf, den man mit sich kämpft, wenn nichts Hoffnung auslöst, wenn man sich verraten und verkauft fühlt, nie Ernst genommen.
    Ich kann dir nur raten, schreibe..schreibe schreibe..und versuche, Freunde zu finden die dich verstehen.
    Ich )kenne deine Diagnosen nicht, habe selbst ein Scheißlos gezogen, weiß aber, es könnte schlimmer sein..nützt nichts..wie auch immer. Bleib mutig..bleib da…, und schreibe..

    Gefällt 1 Person

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