Torsten Krippner für #kkl27 „Loslassen, Unterlassen, Weglassen“
Die Gabe
Ein Stimmengewirr verschiedener Sprachen und Dialekte. Dann die vielen verschiedenen Hautfarben von hellgelb über oker, dunkelbraun bis schwarz. Diese seltsamen Geschmäcke, die an nichts erinnern, mit nichts zu vergleichen sind. Ein Behagen sich wieder in Varanasi durch die engen Gassen der Märkte zu schieben. Nicht um etwas zu kaufen. Etwas essen, nur um die Speisen zu kosten. Von allen Seiten ziehen die Händler zu ihren Ständen, präsentieren stolz ihre Ware. Bald wissen sie, dass er nichts kaufen will. Denn das kann er ihnen klarmachen, darin hat er schon Übung. Aber offensichtlich geht es ihnen gar nicht ums Verkaufen. Sie freuen sich über die anerkennende Gestik. Varanasi ist auch für sein ganz besonders feines Kunsthandwerk bekannt: für die Seidenspinnereien, für den Goldbrokat, Feinspitzen. Jede Frau in Indien und Sri Lanka würde sich glücklich schätzen, einen Sari aus Varanasi zu besitzen.
Nun umzingelt von einer Handvoll bettelnder Kinder. Sie necken, zerren an Händen und Armen, wollen die weiße Haut nicht nur sehen, sondern auch ertasten. Ist es neben der kindlichen Neugierde auch ein Verlangen nach Orientierung?
Vom Markt führen alle Straßen hinunter zum Ganges. Je näher er demGanges kommt, desto häufiger sieht er jetzt alte Menschen am Straßenrand. Und mehr und mehr Sterbende oder Tote. Sie werden hinunter zum Ufer des Ganges getragen. Durch die Stadt zieht sich so ein Band der Sterbenden und der Toten. Die alten Menschen haben eine lange Reise hinter sich, die sie auch oft zu Fuß zurückgelegt haben. Was nach dieser langen Reise an Geld noch übriggeblieben ist, reicht gerade noch, um ein Bündel Holz zu kaufen, auf dem sie sich dann verbrennen lassen. Sie kommen nach Varanasi, mit der Absicht zu sterben und werden bis dahin mit milden Gaben am Leben erhalten. Er war oft in diesen Straßen der Sterbenden. Er setzt sich in Abstand auf eine Stufe, damit sie es nicht bemerkten, von ihm beobachtet zu werden.
Einmal wird er doch entdeckt: von einer alten Frau, die ihm freundlich zuwinkt. Ist es eine Aufforderung, zu ihr herüberzugehen? Doch ach – ein Missverständnis. Er versucht ihr klarzumachen, dass er gerne etwas für sie tun würde, ihr etwas zu essen, zu trinken – oder was immer sie wollte – zu bringen. Aber sie lächelt nur vor sich hin und sagte kein einziges Wort.
Am nächsten Tag ist sie nicht mehr da. Vielleicht wurde sie schon hinunter zum Ganges-Ufer gebracht, um ihr dort mit den paar Rupien, die er ihr gegeben hatte, ein Bündel Holz zu kaufen. Auf das Bündel würde man sie dann legen, ganz so wie sie war, wie sie gefunden wurde. Dann würde ein kahlköpfiger Brahmane kommen, nur bekleidet bis zur Gürtellinie oder einem Lendenschurz mit einer Brahmane- Kordel, die ihm rechts über der Schulter hängt. Der Brahmane kippt dann eine Flasche duftendes Öl über sie und das Holz. Dann entfacht der Brahmane das Feuer und schiebt mit einer langen Stange die Holzscheite immer wieder in die richtige Lage, damit das Feuer nicht seine Intensität verliert. Es wird nach verbranntem Haar riechen, die Haut wird sich vom Fleisch lösen und das Fleisch von den Knochen. Bis nur noch Asche übrigbleibt. Diese wird in ein Tuch gewickelt und zum Ganges hinuntergebracht, wo die Asche dem Fluss übergeben wird. Eine Prozedur, die ohne jedes Ritual abläuft.
Am Ganges angekommen, beobachtete er die riesigen Fische. Er sah Rücken von Fischen auftauchen, deren Größe ihn an Delfine erinnerte. Vielleicht werden diese Fische besonders dick und groß, weil sie sich von noch nicht gänzlich verbrannten Fleischfetzen ernähren können.
Er blieb nicht mehr lange an dem Ufer, wo die Feuer Tag und Nacht brennen. Er wollte noch einmal in die Gasse, wo er die alte Frau tags zuvor getroffen hatte. Der Platz, auf dem sie saß, war immer noch leer. Ebenso am Tag darauf.
So setze er sich noch eine Weile und ließ die Erinnerung an die alte Frau vorüberziehen. Diese Art, wie sie ihm zugewinkte und ihr leichtes Erstaunen, dass er dies als Aufforderung interpretierte. Jetzt erschien ihm dieses Winken wie die freundliche Geste einer Königin, die einem armen Kerl eine Gunst erweist. Natürlich kannte sie ihren Weg genau. Vielleicht saß sie auch oft unten am Ufer, sah den Verbrennungen zu, wohlwissend, was mit ihr innerhalb der nächsten Tage geschehen wird. Und doch hatte sie die absolute Gelassenheit, ja sogar Überlegenheit. Wie jemand, der zwar mit Verständnis, aber ohne jegliche Zugehörigkeit auf das Treiben der Welt herabblickt. Und als er ihr dann die paar Rupien in die Hand drückte, nahm sie diese zwar an, aber ohne eine Geste der Dankbarkeit. Sie akzeptierte das Geld wie ein moralisches Prinzip, als hätte es nur noch symbolische Bedeutung. Es war kein Geld, sondern eine Gabe, die sie gnädig annahm und von der sie wusste, dass diese Gabe nicht mehr für sie, sondern nur noch für den Geber eine Bedeutung hatte.
Wenn er an die kurze Begegnung mit der alten Frau zurückdenkt, dann wird ihm wieder bewusst, wie gut ihm dies getan hat, nach langer Zeit mal wieder etwas zu geben. Aber dieses Glücksgefühl wurde nicht durch die Gabe dieser paar Rupien erzeugt, sondern kam unmittelbar von dieser sterbenden, alten Frau, die offensichtlich nichts mehr wollte und doch seine Gabe annahm. Vielleicht aus Mitleid. Vielleicht ahnte sie, dass er schon lange niemandem mehr etwas gegeben hatte. Und dass sie nun zum letzten Male in ihrem Leben jemandem einen Gefallen tat.

Torsten Krippner
geboren 1968 in Köthen, Studium an der Martin- Luther- Universität Halle: Geschichte und Germanistik, anschließend Volontariat und Arbeit als Redakteur, seit 2001 pädagogischer Mitarbeiter in einer Jugendhilfeeinrichtung am Leonardo da Vinci Campus in Nauen. Der vorliegende Text entstand nach einem Interview mit dem Maler und ehemaligen buddhistischen Mönch Peter Zacharias.
Über #kkl HIER
Ich war 1998 in Varanasi (Benares). Der Text hat mich stark daran erinnert. Aber auch jemand, der nie dort war, kann beim Lesen die Atmosphäre spüren, die dort herrscht. Es ist trubelig, laut, überfüllt. Wir waren zum Sonnenaufgang auf den Ganges hinausgefahren. Ich sah einen Toten, auf ein Brett geschnallt, an mir vorbeitreiben. Das kommt vor, wenn sich Familien nicht das Holz für die Verbrennung leisten können. Manche fotografierten an den Verbrennungsplätzen, das mochte ich nicht.
Der Text gefällt mir, weil er von einer Beobachtung erzählt, die nicht aufdringlich ist, sondern Fragen stellt. Vieles bleibt uns Europäern verborgen und unverständlich.
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