Der Untergang des Hauses Richter

Falk Andreas Funke für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“




Der Untergang des Hauses Richter

Wenn etwas windschief war und auch eigentümlich, leicht muffig roch, dann war es das Haus Richter in der Beek: Café, Speisegaststätte, und legendenumranktes Tanzlokal. Wir haben es beim Spazierengehen gefunden. Ein Fachwerk- und Schiefergebäude der selbstbewusst altbergischen Art. Das Wort Windschief soll hier keineswegs etwas Bruch-budenhaftes beschreiben, sondern Wände und Stürze, die nicht im eigentlichen Sinne gerade waren. Hatte man den Gastraum durch die quietschend-klagende Zwischentür des Windfangs betreten, wurde man von einem Geruch empfangen, in dem sich Tabakqualm, schales Bier, vielfach ausgeatmete Luft sowie Kaffee- und Küchenaromen überlagerten. Hinter dem Tresen stand – umgeben von ältlichen Kellnerinnen – die Wirtin, die Frau Ballnuss hieß und die hier schon immer das Sagen hatte. Sie führte, wie sie behauptete, das Haus schon seit einhundertfünfzig Jahren in Familienbesitz und wenn man die Dame so ansah, konnte man auch glatt daran glauben. Sie war so windschief wie das betagte Gemäuer, dem sie vorstand. Das lag vor allem an ihrem Gesicht, an dem ein Chirurg einen Kunstfehler begangen hatte, wohl an den sensiblen Nerven, die für die Ebenheit der Züge verantwortlich sind. Eine Hälfte hing auf halb acht. Beim ersten Mal erschrak man über diesen Anblick, der im Ensemble mit dem Geruch und den ungeraden Winkeln des Hauses, in dem auch noch Lichtarmut herrschte, weil das Gebäude nach hinten auf einen  Hügel stieß, an den Beginn eines schwarzweißen Horrorfilms erinnerte. Wenn der Zuschauer schon ahnt, dass den unbedarft eintretenden Gästen in dieser Lokalität ein lauerndes Grauen erwartet.

Natürlich war dem nicht so. Erblickte sie uns, rief Frau Ballnuss zum Beispiel: „Junge Männer, Gott sei Dank der Tach is gerettet!“ Ihre Aussprache  war durch den verrutschten Mund etwas verwaschen und von einem gehoben klingen sollenden Wuppertaler Akzent geprägt. Wir junge Männer warendamals schon jenseits der Vierzig angekommen. Das Kompliment brachte uns immer wieder zum Lächeln.

Dem Schankbereich angeschlossen war ein Gastraum von schlauchartiger Länge, der ein wenig an einen dieser Bundesbahn-Speisewagen aus unserer Kindheit erinnerte: plüschig wie bei Oma im Wohnzimmer. Die Tapeten – altdeutsch mit Schnörkelmustern und Jagd-motiven – waren von Generationen gelbgeraucht. Auf den mit Bierdeckeln am Wackeln ge-hinderten Tischen standen gleichfalls geschnörkelte Aschenbecher, die den Markenaufdruck der Firma Asbach Uralt trugen. Im Asbach Uralt liegt der Geist des Weins: mit diesem Spruch wurde früher im Fernsehen für die besagte Weinbrandmarke geworben und ich weiß noch, wie mich als Kind dabei ein Gruseln anlangte, weil von einem Geist die Rede war. Hier auf den Tischen wirkten die Asbach-Aschenbecher fast wie eine subtile Aufforderung, das neue Rauchverbot in der Gastronomie zu attackieren. Das Kaffeegeschirr war aus dickwandigem Porzellan und enthielt eine Stempelprägung mit einem Mohrenkopf unter Palmwedeln. Die Tassen bauchig wie kleine Fässer. Unter manchen Tellern befand sich noch eine andere Prägung, eine germanische Rune, die uns Schaudern machte. Mit Frau Ballnuss` Worten: „Dat haben wir dammals von den Engländern gekauft“ war die Sache abgesegnet. Wir drehten die Teller nicht mehr um.

Auch hier im Gastraum war der Geruch aus Moder und Wirtschaft gegenwärtig. Dieses Modern war keineswegs penetrant, eher so, als öffnete man auf dem Dachboden einen lange verschlossenen Kleiderschrank. Man war stets an die Vergänglichkeit alles Dinglichen erinnert, was auch an den Gästen lag, deren Altersdurchschnitt sich im hohen zweistelligen Bereich bewegte. Wir junge Männer senkten mit unserer Anwesenheit diesen Schnitt allerdings beträchtlich. Es waren allesamt Stammgäste, die hier regelmäßig und nur noch an den Wochenenden zusammentrafen und von Frau Ballnuss namentlich begrüßt wurden. Sie ging dabei als Hausdame von Tisch zu Tisch, machte Konversation, ihr Privileg, während die Mädchen servierten. „Ach, da sind ja auch de Cronenberger“, entfuhr es ihr, „ich hab euch gar nicht reinkommen sehen.“ Worauf sich ihr vier weißhaarige Köpfe zuwandten. Drei davon gehörten betagten Frauen, die ihre helmartigen Hüte stets aufbehielten. Bei ihnen war immer ein beleibter Herr, den sie wie einen Hahn im Korb mit sich führten und der wohl mit einer der Helmträgerinnen verheiratet war.

Ihre Gäste – darauf legte die Wirtin ausdrücklichen Wert – standen unter ihrem persönlichen Schutz. Das galt auch für Johannes Rau, der oft ohne seine Sicherheitsleute im Haus Richter zu seiner Skatrunde erschien. Es seien aber nie despektierliche Dinge nach außen gedrungen, obwohl doch die Presse lauerte. Denn Frau Ballnuss stand wie eine gepanzerte Amazone vor ihrem hohen Stammgast. „Da haben sich de Zeitungsfritzen nix mehr getraut. Noch nich mal en Foto, wo der Johannes ne  Zigarette in der Hand hält, wurde gebracht.“

Zu unserer Zeit verhinderte Krankheit bereits Raus weitere Teilnahme an jeglichen Skatrunden. War es die Last der wilden Jahre, die sich auf unseren ausgedienten Bundes-präsidenten legte? Wenn man Frau Ballnuss nach seinem Befinden fragte, holte sie lange auf pathetische Weise Luft und bemerkte in bedeutsamem Ton: „Et geht ihm nich gut.“ Mit Christina, der Ehefrau, stand sie in persönlichem Kontakt, was sie zu einer Art Geheimnisträgerin machte. Sie sprach zwischen den Zeilen, indem sie die ganze Wahrheit nur andeutete. Durch das lange Luftholen zum Beispiel. So erfuhr man nicht mehr, als ohnehin in der Zeitung stand.

„Et will in Deutschland kein Mensch mehr arbeiten“, lautete einer von Frau Ballnuss` Standardsätzen. Wir mussten jedes Mal schlucken und uns anschauen, wenn sie ihn aussprach. „Die hängen lieber faul aufm Sofa und kassieren Stütze“, glaubte die Wirtin zu wissen. Die Mädchen, die beim Servieren immer blitzweiße Schürzen trugen, waren hier offenbar nicht gemeint. Obwohl es kaum schaden konnte, wenn die sich das anhören mussten. Personal neigt ja zu Eskapaden wie Krankfeierei. Was sich die Mädchen beim Tragen der schweren Tabletts gedacht haben mochten, lässt sich nur ahnen.

Die Auswahl, die sie an die bierdeckelgestützten Tische brachten, war beschränkt, aber von bester bürgerlicher Qualität. Törtchen mit Kirsch oder Stachelbeer. Oder beides in einem halb und halb. Die Tortenböden hatten eine angenehme Konsistenz, keine wattige Industrie-massenware. Sonst gab es nur noch Englischen Kuchen mit Rosinen und Zitronat-einschlüssen. Alles wahlweise mit oder ohne Schlachsahne.

Hinter dem Gastraum lag – von einem staubgesättigten Vorhang abgetrennt – der Festsaal. Das Herz des Hauses. Er führte ein Dasein im Dauerdämmerzustand. Nur einmal im Monat noch wurde der Vorhang zurückgezogen, wurden die Flügeltüren zum Garten geöffnet und frische Luft und Gäste hereingelassen. Die Frischluft war dringend erforderlich, denn hier moderte es am stärksten. Das lag wohl daran, dass der Garten bald an einem Steilhang endete, der wenig Licht zuließ und Feuchtigkeit speicherte, die der Festsaal permanent aufsog und somit dem ganzen Haus zuführte. Hier hatte sich seit der Gründerzeit praktisch nichts mehr verändert – von der Elektrifizierung und ein paar vorsichtigen Modernisierungs-maßnahmen in den 1950er-Jahren einmal abgesehen. Auf der Bühne fristete ein Flügel sein schweigsames Dasein. Die Veranstaltungen, zu denen er aufgespielt hatte, waren legendär: Tanz in den Mai, Ball der einsamen Herzen, Silvester, Karneval. Und natürlich die legendären verrauchten Nächte, in denen heiße Musik gegeben wurde: Dixielandjazz.

Ob wir vielleicht mal einen Blick in den Festsaal werfen dürften? Wenn wir Frau Ballnuss diese Frage stellten, zögerte sie kurz und schaute uns kritisch an. Waren wir würdig, das Allerheiligste zu betreten? Junge Männer hatten bei ihr wohl besondere Rechte. Und so zog sie den Vorhang ein Stück beiseite, ließ uns ins Halbdunkel ein, machte mit einem  Bakelit- drehschalter klack, worauf sich ein von Spinnen umwebter Kristallleuchter aufs Strahlen besann. Holzvertäfelte Vergangenheit, Staubpartikel aufgewirbelt im Licht. An diesem Ort war die Zeit dermaßen stehen geblieben, als hätten die Uhren den Atem angehalten. Im Geiste hörten wir eine Tanzkapelle Foxtrott und Polka spielen. Und zum Schluss: Wiener Walzer.

„Müsst Ihr mal kommen, wenn Jess is`.“ Damit waren die Jazzkonzerte gemeint, in denen Kapellen wie die Seatown Seven aus Remscheid spielten. Alte Herren mit Pepp. „Dann is` die Bude rappelvoll, dat kann ich Euch sagen.“ Leider haben wir die zu unserer Zeit schon immer seltener werdenden Konzerte allesamt verpasst. Verrauchte Luft, swingendes Dielenparkett, rhythmisch wippende Damen- und Herrenschuhe. Frau Ballnuss kam nach derart durch-glühten Nächten regelmäßig erst in den Morgenstunden hoch in ihre privaten Gemächer.

Einmal feierten wir Geburtstag im Kreis der Familie. Frau Ballnuss kam ihren Pflichten nach und ging als Hausdame von Tisch zu Tisch. Gerade hatte sie de Cronenberger begrüßt, nun waren wir an der Reihe. „Wen habt Ihr denn alles mitgebracht?“ Wir stellten unsere Verwandtschaft vor. „Gott, wat nette Kinder – und der Kleine spielt schon Klavier?“ Jetzt war die Gelegenheit nach dem Festsaal zu fragen. Gemeinsam betraten wir den dämmrigen Raum, dessen Parkett unter unseren Füßen aufseufzte. Ungefragt erklomm unser kleiner Neffe die Bühne, setzte sich an den Flügel, klappte den schwarz glänzenden Deckel hoch und begann zu spielen. Das verschmitzte Lächeln, das er dabei aufsetzte, legte er auch in die Töne, die er dem greisen Instrument entlockte. Ein flotter Ragtime. Frau Ballnuss schmolz dahin. „Der kleine Junge!“, rief sie „Wie is denn dat möchlich?“

So empfingen wir den Adelsschlag, der uns in den Kreis der besonderen Gäste aufrücken ließ. Die noch immer gerührte Wirtin ließ eine Flasche bringen. Bärenfang, original aus Ostpreußen und mit deutschem Etikett. Ihr längst schon verstorbener Ehemann war nämlich aus diesem verlorenen Ostgebiet gekommen, um sie zu heiraten, das Haus mitzuführen und der Frau seines Lebens diesen merkwürdigen Nachnamen zu hinterlassen. „Ballnuss, geborene Richter; darauf habe ich immer Wert gelegt.“ Alle bekamen wir eingeschenkt. Ein gelbes klebriges Zeug. Süß wie Honig, den ein Bär von der Tatze schleckt. Dem jungen Pianisten und seiner kleinen Schwester, die mit großen Augen vor Stolz auf ihren Bruder strahlte, servierten die Mädchen Limo auf Kosten des Hauses. Frau Ballnuss reichte uns persönlich die Gläser und weil ihr beim Sprechen ein paar Speicheltropfen aus dem herunterhängenden Mundwinkel spritzten, blieb es nicht aus, dass sich ein paar davon mit dem uns gereichten Bärenfang vermischten. Wir konnten nicht ablehnen. Also empfingen wir nicht nur den richterlichen Adelsschlag, sondern auch noch eine Art von Bluts-bruderschaft.

Das Ende des Hauses Richter ist schnell, aber nicht schmerzlos erzählt. Weil die Stammgäste allmählich ausstarben und auch der Cronenberger Tisch sich zu lichten begann, wurde nur noch an Sonntagen geöffnet mit kleiner werdendem Personal. An den anderen Wochen-tagen lebte Frau Ballnuss, geborene Richter, als einzige Bewohnerin in der oberen Etage des gebrechlichen Gemäuers.  Sie mag durch die düsteren Kammern geschlichen sein und Staub gewischt haben, fast schon ein Gespenst ihrer selbst. Manchmal standen wir nun aber auch sonntags vor der verschlossenen altbergischen Tür. Das Scheppern der heiseren Schelle verklang in den unbeleuchteten Räumen. Als ich deswegen einmal anrief, um mich bange und ungewiss nach dem nächsten Öffnungstag zu erkundigen, ging die  einsame Dame nach vielen Klingeltönen doch noch an den Apparat.  Ich verstand kaum, was sie sagte. Nur so viel, dass in Deutschland kein Mensch mehr arbeiten wolle.

Nach ihrem Tod wurde endgültig abgeschlossen. Der Schwiegersohn hatte sich noch mit der Stadt angelegt, die das Rauchverbot nun auch auf den Festsaal und die Jazznächte ausdehnen wollte. Rauchfreier Jazz? Den sollte es hier genauso wenig geben wie alkoholfreies Bier. „Dann mach ich Euch den Laden dicht“, sagte der letzte Wirt, die Ver-antwortung trotzig auf die Paragrafenreiter des Ordnungsamts schiebend. Einhunderfünfzig Jahre gastronomischer Tradition wurden nun mit Frau Ballnuss zu Grabe getragen. Und Johannes Rau mag sich in seiner letzten Ruhestätte ächzend umgedreht haben: auf dem Friedhof im fernen Berlin.

Die Erben verkauften an eine Baugesellschaft. Bagger brachten die maroden Mauern zum Einsturz. Zuerst schockiert und dann angelangt von dumpfer Trauer standen wir vor diesem scheußlichen Schauspiel. Heute befindet sich an derselben Stelle ein modernes Mehr-familienhaus. Schnurgerade Linien, weißverputzte Wände. Ein nichtssagendes Gebäude wie es überall stehen könnte in den Wohnparks an den Peripherien der Städte. Kein Geist möchte hier spuken; schon gar nicht der von Frau Ballnuss. Vielleicht wird die Feuchtigkeit aber eines Tages auch in diesen Keller kriechen und ein kühler Hauch weht vom Garten herein wie das  Seufzen aus dem schiefen Mund eines enttäuschten Gespensts.

Der Name der Bushaltestelle gegenüber wurde geändert. Nach dem Untergang des Hauses Richter, hat ihn sich der Neubau nicht mehr verdient. Das haben auch die städtischen Verkehrsbetriebe einsehen müssen. Deshalb steht auf dem Schild neben dem Warte-häuschen nur noch das eine Wort: Richter. Kein Haus mehr. Wer die Vorgeschichte nicht kennt, mag  sich über diese merkwürdige Ortsbezeichnung wundern.




Falk Andreas Funke, Autor aus Wuppertal, Jahrgang 1965. Brotberuflich seit 1982 in der Arbeitsverwaltung tätig. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Seit 2001 Mitarbeiter des Satiremagazins ITALIEN, Wuppertal.

Bücher: Tier und Tor, 2004; Ballsaal für die Seele, 2010 (Gedichte, Turmhutverlag, Mellrichstadt), Krause, der Tod und das Irre Lachen, 2012 (kleine Geschichten, Verlag Thomas Tonn), Lausägefisch – Maritime Seelen 2022 (Gedichte, gemeinsam mit Jule Steinbach, Holzschnitte, Kunstbuch-Eigenverlag).

Eugen-Wolff-Literaturpreis der Fachschaft Deutsch, Christian-Albrechts-Universität Kiel, 2004. Erster Platz beim Bad Godesberger Literaturpreis, 2017.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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