Klaus Enser-Schlag für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Svetlanas Brief
Es ist Freitag, spät in der Nacht. Svetlana sitzt in Adrians Zimmer und schreibt einen Brief. Hier, im Zimmer ihres Sohnes, offenbart sich die ganze Vergangenheit und verdeutlicht zu schmerzvoll die Gegenwart. Draußen beginnt es leicht zu regnen. Die Regentropfen klopfen leise an das Fenster, fast erscheint es Svetlana, als ob ein zu Tode erschöpfter Soldat vor ihrer Tür steht und Einlass begehrt. Svetlana weiß, dass es nicht ihr Sohn sein wird. Er ist kurz vor dem Weihnachtsfest, am 22.12.2022, gefallen. Seit ihr 21-jähriger Sohn im Sommer letzten Jahres eingezogen wurde, hatte Svetlana mit Adrian einige Male telefoniert. Sie erzählte ihm ganz alltägliche Dinge und versuchte auf diese Weise, ein Stück Normalität in diesem ganzen Wahnsinn zu bewahren. Als Adrian sich beim letzten Anruf von ihr verabschiedete, merkte Svetlana, wie nah ihr Sohn den Tränen war. Hatte er geahnt, dass er seine Mutter nie mehr hören und sie niemals wieder in seine Arme nehmen würde? Seit sie die Nachricht vom Tode ihres einzigen Kindes bekam, schreibt Svetlana ihm jeden Tag einen Brief. Immer an seinem Schreibtisch, dort, wo er vor vielen Jahren im Alter von sieben Jahren die ersten Zeilen an seine Mutter schrieb. Es war nur ein kleiner Zettel, auf welchem in einer zarten, ungelenken Kinderschrift ein Satz stand: „Mama, ich habe dich so lieb“. Neben den Zeilen hatte er eine lachende Sonne gezeichnet. Dieser Zettel steht jetzt neben seinem gerahmten Bild auf der linken Seite der Schreibtisches. Svetlana verweilt oft mehrere Stunden in Adrians Zimmer. Ab und zu spricht sie mit ihm und dann, wenn sie der Schmerz zu zerbrechen droht, hört sie seine Stimme, die ihr antwortet. Manchmal schreibt Svetlana in Adrians Namen an sich selbst einen Brief. Sie gibt ihre Adresse an und wirft ihn ein, um das Schreiben am nächsten Tag aus ihrem Postfach zu holen. So hat sie für einen kurzen Moment das Gefühl, dass ihr Sohn noch lebt. Doch dann drängt sich die Realität unbarmherzig wie ein scharfes Messer in ihr Herz. In diesen Momenten der Gewissheit, des schrecklichen Erwachens aus ihrem brüchigen Traum, weint Svetlana. In dem Zimmer ihres Sohnes hat sie keine Tränen, denn dort ist alles noch so, wie Adrian es verlassen hat und es scheint, als könne der Tod diesen letzten Zufluchtsort Svetlanas vor Kummer und unsagbarem Leid nicht zerstören. Svetlana weiß, dass sie den Schmerz zulassen muss, um sich irgendwann davon befreien zu können. Sie darf nichts unterlassen, was ihr die Möglichkeit zum Trauern lässt. Und so schreibt sie an ihren Sohn, meistens in der Nacht, lange, zärtliche Briefe. Sie schreibt sich alles von der Seele, lässt nichts weg und verfasst alles so, wie sie es in diesen Momenten fühlt. In den Briefen lässt sie alles zu: Trauer, Wut, unendliche Verzweiflung und die Hoffnung auf ein Wiedersehen – irgendwann, irgendwo…
Sie muss dieses Gefühl der inneren totalen Vernichtung überwinden.
In dieser Nacht schreibt sie:
Mein geliebter Sohn,
nun sitze ich wieder in Deinem Zimmer und schreibe Dir. Fast ist es wie ein Lebenselixier für mich geworden, nein, vielmehr erscheint es mir wie ein „Überlebens-Elixier!“ Ich sitze hier und schaue Dein Bild an. Daneben liegt Dein allererstes Schreiben, jener kleine Zettel, der für mich mehr bedeutet, als Du es Dir vielleicht ausmalen kannst. Mein Blick geht nach rechts, zu Deinem Bett. Weißt Du noch, als Du klein warst, habe ich über Deinem Bett das Bild eines Schutzengels aufgehängt. Wenn es Schlafenszeit war, hast du mit mir gebetet. Du knietest dann mit gefalteten Händen auf Deinem Bett und hast diesen Engel um Schutz und Hilfe gebeten. Ich dachte immer, dass er Dich Dein ganzes Leben lang behüten wird. Ich habe es Dir so sehr gewünscht! Es ist nicht meine Trauer, die Dich bedrücken soll, nein, was mich manchmal so wütend macht, ist die Tatsache, dass man Dir Dein junges Leben wegen gewissenloser Menschen mit Macht- und Profitgier genommen hat! Nie wirst du erfahren, wie es ist, eigene Kinder zu haben. Sie werden Dich niemals umarmen, Dich küssen und Dir sagen, wie lieb sie Dich haben…
Ich weiß, dass ich meine Trauer und die unendliche Verzweiflung loslassen muss, denn erst dann kann ich Dir wieder mit all meiner Liebe begegnen, ohne die Qual dieser bitteren Gedanken. Jede Mutter muss irgendwann ihr Kind loslassen, damit es seine eigenen Wege gehen und sich entfalten kann. Wie gerne hätte ich Dich auf diesem Weg begleitet! Und weil Du mir das Liebste auf der Welt bist, werde ich versuchen, stark zu sein. Noch habe ich nicht die Kraft dafür, doch ich möchte dahin gelangen, dass der Tod niemals mehr seine Schatten über unsere gemeinsamen, glücklichen Jahre und meine Liebe zu Dir werfen kann. Erst, wenn ich das genauso fühle, wie ich es Dir jetzt schreibe, werde ich Dein so unsagbar trauriges Schicksal ertragen können…

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Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,
Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)
Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,
Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen
in Anthologien.
Mehr unter:
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und
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Interview mit Klaus Enser-Schlag HIER
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